Veröffentlicht am

Zwei, die als Fremde hier gelandet sind …

Zwei, die als Fremde hier gelandet sind … Zwei, die als Fremde hier gelandet sind …

Was es heisst, zwei Kulturen in sich zu tragen, erläuterten Elena Hinshaw Fischli und Marina Ochsner- Milutinovic in ihrer gemeinsamen Festrede. Der EA druckt Auszüge davon im Folgenden ab.

«Wir begrüssen Sie herzlich zu dieser Feier, die eine Art kollektiver Festtag zum 730. Geburtstag der Schweiz ist, an dem wir uns freuen, hier zu leben, zu diesem Land zu gehören. Und an dem wir uns Gedanken machen dazu, was wir hier schätzen und wie wir uns dieses Land wünschen. […] Und hier sind wir schon beim Thema, das wir in den Mittelpunkt unserer Ansprache stellen: Was bedeutet Heimat, und was bedeutet es, mehr als nur eine Heimat zu haben? […] Ein Leben in mehreren Zugehörigkeiten In der Schweiz sind es viele Tausende, die als Secondas und Secondos aufgewachsen sind mit Eltern, die von einem anderen Land hierher gezogen sind. Alle dadurch Geprägte leben in mehreren Zugehörigkeiten. Ein Leben als Seconda und Secondo, als Tochter oder Sohn von zugewanderten Eltern, ist ein Weg voller Herausforderungen. Das haben wir beide in verschiedenen Ausprägungen erlebt. Aber es ist auch ein Weg voller Chancen: Es ist ein Weg vom Vertrauten, Bekannten ins Unbekannte, ins vorerst Fremde. Dieser Weg verlangt Entwicklungsbereitschaft, verlangt Einsatz, verlangt Mut, kostet Energie. Wenn ich die Angst überwinde – die Angst vor denen, die mich ablehnen, einfach weil meine Eltern nicht von hier sind, die Angst vor dem Neuen, die Angst mich zu blamieren, die Angst, ausgeschlossen zu werden – und hingegen wagemutig bin, offen zu lernen, mich den Herausforderungen stelle, so gewinne ich eine mehrfache Zugehörigkeit, eine neue Heimat, ein mich Zuhause-Fühlen und Verantwortung-übernehmen- Können im Jetzt. […] Wir haben beide erfahren, dass ein mehrkulturiges Leben mit verschiedenen Zugehörigkeiten nicht nur eine manchmal konfliktreiche Herausforderung, sondern auch eine grosse Chance und ein Gewinn ist. Eine Zugehörigkeit ist geprägt durch die Wurzeln meines Stammbaums. Zu diesen Wurzeln gehören die Muttersprache, die Sitten und Regeln der Kultur eines Elternteils oder beider Eltern. Die anderen Wurzeln sind gewachsen durch mein Hiersein, mein Dasein in der Gegenwart, durch die Sprache, die Bräuche, die Geschichte und den Ort, wo ich mich einbringe und engagiere, wo ich arbeite und als Erwachsene wirke. Auch das ist «Heimat », unabhängig davon, ob ich nun da ein Bürgerrecht besitze oder nicht. Wasser kennt keine Grenzen und berührt beide Ufer Mehr als das Bild des Baumes gilt für uns, die wir zwei Kulturen in uns tragen, vielleicht das Bild der Brücke. Es gibt in uns eine ständige Zwiesprache. Wir gewinnen viel durch Vergleiche und wir wissen früh, dass es nicht nur eine Wahrheit und Wirklichkeit gibt, nicht nur eine Sicht und eine Richtung. Wir haben auch früh lernen müssen, Verschiedenes zu verbinden und miteinander oder zumindest nebeneinander bestehen zu lassen. Das ist nicht immer einfach, aber so werden wir zu kulturellen Brückenbauerinnen oder zumindest zu Brücken-Begeherinnen. Was uns dabei hilft: Unter uns fliesst das belebende Wasser, das keine Grenzen kennt und immer beide Ufer berührt.

Im besten Fall werden wir so im Kern demokratisch, tolerant, aufgeschlossen, können Anders- Denkende ernst nehmen, sie gelten lassen, offen auf sie eingehen, beweglich in unseren Ansichten bleiben. Denn wir wissen, wie schmerzhaft Diskriminierung sich anfühlt. Und wie gross die Sehnsucht danach ist, sich akzeptiert und geschätzt fühlen zu können. Gerade so, genau so, wie man ist. Wir wissen, dass es wesentlich ist, auf Aussenseiter zuzugehen, Minderheiten nicht auszuschliessen, sondern sie als Teil des Lebens hier zu sehen, als Teil der Gemeinschaft. […] Was wir auch wissen: Niemand ist ein «Tschingg», «Jugo», «en tüütsche Gummihals» oder «en Schoggichopf». Jede und jeder von uns ist einzigartig und möchte als einzelne Person wahrgenommen und ernstgenommen werden. Und fühlen, dass er oder sie zu einem «Miteinander » gehört. Vorurteile und Verallgemeinerungen stehen nur im Weg und gehen an der Wirklichkeit fast immer vorbei.

Jede und jeder braucht ein Gefühl des Zuhause-Seins, des Akzeptiert-Seins, braucht ein soziales Netz, wo er oder sie nicht als minderwertig, sondern als gleichwertig gilt. In jeder und jedem von uns lebt der tiefe Wunsch nach einem sicheren, friedlichen Ort, wo mein Dasein- Dürfen nicht in Frage gestellt ist. Wo ich wirken kann, etwas bewirken, wo ich Rechte habe. Und wo ich nicht nur mein Leben, sondern das der Gemeinschaft, deren Teil ich bin, mitgestalten kann.

Mehr als das Bürgerrecht

Heimat ist also nicht nur da, wo ich das Bürgerrecht besitze: Es ist da, wo ich meine wichtigen Beziehungen lebe, wo ich tätig bin, wo ich Verantwortung trage für eine grössere Gemeinschaft. Ich bin glücklich, dass ich hier mitreden kann, mitreden darf, im Schaffen einer Zukunft. Das bedeutet Heimat. […] Nur miteinander können wir das verändern. Das deutsche Wort «Miteinander» bedeutet ja «mit einem Anderen». Das heisst mehr, als «nicht alleine», sondern «mit einem oder einer, die oder der anders ist als ich». In diesem schlichten Wort kommt zum Ausdruck, dass die Andersartigkeit eine Ergänzung ist, eine Bereicherung, eine Hilfe, eine Steigerung der Wirkenskraft. Nur im Miteinander, wo Frauen, Männer, Kinder, Einheimische und Ausländerinnen, Eingebürgerte und Migrierte einfach als Menschen gesehen werden, schaffen wir die kleinen und grossen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft.»

Die Festrednerinnen Marina Ochsner-Milutinovic (links) und Elena Hinshaw Fischli. Foto: Victor Kälin

Share
LATEST NEWS