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«Da fährt man mit Wehen zu viert auf dem Motorrad ins Spital …»

«Da fährt man mit Wehen zu viert auf dem Motorrad ins Spital …» «Da fährt man mit Wehen zu viert auf dem Motorrad ins Spital …»

Die Einsiedler Hebamme, Daniela Guerlin, weilte für gut zwei Wochen in Nigeria. Sie leistete dort mit einer ehemaligen Arbeitskollegin wichtige Entwicklungshilfe für eine gemeinnützige Stiftung.

Relativ kurzfristig kam Daniela Guerlin vor Kurzem zu ihrem ersten gemeinnützigen Einsatz: «Über Kollegen von Katja Füchslin, die lange mit mir im Spital Einsiedeln gearbeitet hatte, hörten wir, dass die Stiftung «AN-NYA » für einen Einsatz in Nigeria spezifisch nach Hebammen suchte. Wir überlegten uns das, und da wir es uns einrichten konnten, entschlossen wir uns Mitte Februar dazu, dieses Abenteuer zu wagen!» Bekanntschaft mit Afrika hatte Daniela Guerlin aus einem früheren Urlaub in Kenia und Tansania gemacht, aber Nigeria war ihr auch fremd.

So übernahmen zu Hause die Ehemänner und Familienangehörigen das Zepter und in der Hebammenpraxis von Daniela ihre Geschäftspartnerin Doris Glur. Daniela möchte sich bei allen bedanken, die geholfen haben, das Projekt umzusetzen: «Doris hatte sehr viel zu tun, bei mir zu Hause klappte alles sehr gut, da mein Mann und die Teenager-Kinder sich gut organisiert hatten, und bei Katja teilten sich Ehemann und Familie die Kinderbetreuung und den Haushalt auf.» Los geht’s nach Afrika!

Und dann reisten die 50-jährige Daniela und die 40-jährige Katja am 23. März mit einem Team von sechs Personen nach Nigeria. Das Team bestand aus zwei Chirurgen, einem Gynäkologen, einem Technischen Operationsassistenten und den beiden Hebammen. Das Ziel war das St. Mary’s Hospital in Okpoga, im südlichen Nigeria (siehe Kasten). Die AN-NYA-Stiftung leistet hier eine besondere Art der Entwicklungshilfe. Sie legt ihren Fokus darauf, das einheimische Personal auszubilden vor allem im chirurgischen und neu auch im gynäkologischen Bereich. Das Spital mit rund 140 Betten ist für ein sehr grosses Einzugsgebiet zuständig.

Die Anreise des Teams ver-lief gut, dauerte aber fast 24 Stunden und war daher ziemlich anstrengend. Alle Teammitglieder reisten mit zwei Mal 23 Kilogramm schweren Koffern an. «Wir hatten viel medizinisches Material dabei: Beatmungsbeutel, Naht- und Verbandsmaterial, OP-Kleidung, Handschuhe und Instrumente und geburtshilfliche Utensilien», erzählt Daniela. Sie bedankt sich an dieser Stelle bei Schutz & Rettung Zürich, hebammenzeit GmbH und dem Ameos Spital Einsiedeln für die grosszügigen Materialspenden. Weiter habe sie fast nur Kleidung mitgenommen, die sie dann vor der Abreise in Nigeria verschenken konnte. Tragen mussten sie die schweren Koffer nie: «Die Afrikaner sind sehr freundlich und hilfsbereit!» Sie spürten während ihres Aufenthalts immer viel Dankbarkeit und eine grosse Fröhlichkeit – trotz oder gerade wegen der grossen Armut. Eintauchen in eine andere Welt

In Okpoga angekommen, bezogen alle ihre Zimmer auf dem abgesicherten Spitalgelände. Im Wohngebäude der Ordensschwestern hatte jeder ein eigenes Zimmer mit Dusche und WC. Im Gegensatz zu den Spitalräumlichkeiten war die Unterkunft sehr komfortabel. Die Schwestern sorgten gut für das Team, bekochten sie und versorgten alle stets mit genügend Wasser. Ausserhalb des Spitals herrschten einfachste Verhältnisse. Wasser und Strom sind auf dem Spitalgelände zwar vorhanden, aber beides fällt immer wieder aus. Die Stromversorgung wird aus einigen wenigen Solar-panels gewährleistet, für den OP gibt es zusätzlich Notfallgeneratoren. Während ihres Aufenthaltes musste zum Beispiel kurzfristig eine neue Wasserleitung rund um das Spital gelegt werden.

Der Alltag im Spital war immer gleich aufgebaut. Morgens wechselten sich die angereisten Fachpersonen mit dem Unterricht ab. Jeweils eine Stunde wurden den Spitalmitarbeitern vor allem praktische Sachen gezeigt, die sie unmittelbar umsetzen können. Es wurden mit den mitgebrachten Computern auch Fachfilme präsentiert. In Nigeria werden viele verschiedene Stammessprachen gesprochen, Amtssprache ist Englisch, so funktionierte die Verständigung sehr gut. Anschliessend halfen die beiden Hebammen in der Schwangerschaftssprechstunde, im Gebärsaal oder Wochenbettabteilung oder sogar im OP mit, je nachdem, wo gerade Arbeit anfiel.

Das chirurgische Team wechselte nach der Schulung in den OP – der sich doch sehr von denjenigen der Schweiz unterscheidet. Sie führten spezielle Operationen selbst durch und leiteten das Fachpersonal in Operations- und Instrumentiertechnik an. Speziell ist vor allem der Umstand, dass die einheimischen Operateure keine ausgebildeten Ärzte waren, sondern Pflegepersonal, das gelernt hatte, Operationen durchzuführen. Im gesamten Spital gab es zwei «richtige» Ärzte. Instrumente und auch die Kleidung werden von Hand gewaschen und mit Dampf sterilisiert. Ein schönes Ritual ist, dass jede Operation mit einem Gebet beginnt. Was Daniela aber feststellen musste: «Für die einfachen Verhältnisse, die in Okpoga vorherrschen, macht es das Spital-personal sehr gut und sie leisten bestmögliche Versorgung!» Ins Spital nur im Notfall In Nigeria kennt man keine Krankenversicherung, alle Kosten müssen privat bezahlt werden. Daher und aufgrund der weiten und schwierigen Anfahrtswege gebären die meisten Frau-en zu Hause. Die Frauen kommen erst bei sehr langwierigen Geburten, Komplikationen oder wenn ein Kaiserschnitt nötig ist ins Spital. «Wenn zum Beispiel ein Kind nach einer Geburt Sauerstoff benötigt und die Eltern sich das nicht leisten können, dann wird kein Sauerstoff verabreicht, auch wenn es zur Konsequenz hat, dass das Baby dann verstirbt», blickt Daniela Guerlin nachdenklich zurück: «In der Schweiz kommen Todesfälle unter der Geburt oder kurz nach der Geburt so gut wie nie vor und dort mussten wir es nur in den zwei Wochen aus verschiedenen Gründen mehrmals erfahren.» Natürlich sind auch die Räumlichkeiten nicht mit unserem europäischen Standard zu vergleichen. In der Mutter-Kind-Station gibt es ein grosses Zimmer, wo alle Patientinnen direkt nebeneinander liegen – Privatsphäre gibt es nicht. In der Mitte gibt es einen Tisch für die Pflegerinnen. Die Hygiene ist ein grosses Problem. Einen Rettungswagen kennt man in ländlichen Gegenden nicht. «Da die meisten kein Auto haben, kommen die Patienten und auch ‹Notfälle› oft mit dem Motorrad ins Spital – oft auch zu viert auf einem …» Auch die Arbeit des Spitalpersonals unterscheidet sich massgeblich im Vergleich zu Schweizer Verhältnissen, erklärt die Einsiedler Hebamme: «Jeder hat seine Angehörigen dabei, die sich um den Patienten kümmern, zum Beispiel Körperpflege übernehmen, Wasser und Essen zubereiten und bringen und für neue Wäsche sorgen.» Die Pflegerinnen seien nur für medizinische Angelegenheiten zuständig, Dokumentation ist viel weniger aufwendig und dadurch ist der Arbeitsalltag deutlich gelassener. Amüsant zu beobachten sei immer gewesen, wie die Mütter ihre frischgebackenen Babys dick einpackten und sogar Wollmützen anzogen – notabene bei 35 Grad! Und genau diese Hitze sei auch während der Arbeit nicht zu unterschätzen gewesen, vor allem, wenn man sich nicht gewohnt ist.

Gefährliches Land In ihrer spärlichen Freizeit durften sie einmal einen Ausflug in einen grösseren Ort machen. Da Ostersonntag war, wurde ein Gottesdienst besucht, ein spezielles Erlebnis! Die Bevölkerung im Süden von Nigeria ist sehr katholisch. An einem der Abende organisierten die Angestellten ein Fest für das Schweizer Team und sie erhielten ein traditionelles Hemd. Sonst sahen sie ausser auf der An- und Abreise nicht viel vom Land: «Nigeria gilt als gefährliches Land. Daher durften wir nicht einmal allein ins Dorf. Auf dem Gelände waren wir abgeriegelt und geschützt.» Während der sechsstündigen Fahrt von der Hauptstadt Abuja nach Okpoga konnten sie die Landschaft aus dem Bus sehen. Daniela schaut dankbar auf ihren Einsatz zurück: «Die Einheimischen konnten nicht nur von uns lernen, auch wir durften viel von ihnen lernen. Der Aufenthalt war wahnsinnig interessant!» Nach der Rückkehr in die Schweiz am 7. April brauchte Daniela Guerlin eine Weile, bis sie die Eindrücke von zwei Wochen Afrika verarbeiten konnte. Der Einsatz sei enorm kurz gewesen, kaum habe man sich eingelebt, musste man auch schon wieder abreisen. Daniela kann sich vorstellen, wieder einmal einen solchen Einsatz zu leis-ten. Erstmal geht ihr die Arbeit in Einsiedeln aber so schnell nicht aus, denn geboren wird immer! Anlässlich des internationalen Hebammentags am 5. Mai gibt es in ihrer Praxis «Hebammenzeit » einen Tag der offenen Tür und weitere Eindrücke ihrer Reise in Form eines kleinen Vortrags mit einer Bilderschau. (Inserat zum Anlass folgt)

Fotos: zvg


Operateure im Einsatz, diejenigen mit den blauen Kleidern schauen zu und lernen.

Mutter- und Kindabteilungen: Betten stehen nebeneinander, Privatsphäre ist ein Fremdwort.

Auch die Reanimation eines Babys wurde geschult.

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