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Weitermachen bis zum Knall

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BRIEF AUS OSTTIMOR

Die Sprachenvielfalt Osttimors widerspiegelt eindrücklich dessen Topografie und Abgeschiedenheit. Die Verfassung des rund 15’000 Quadratmeter kleinen Landes anerkennt 13 indigene Sprachen.Wohlverstanden: Komplett eigenständige Sprachen, nicht verschiedene Dialekte, so wie wir sie in der Schweiz kennen. Die Vielfalt erzählt aber auch von der Geschichte des Landes. In der Hauptstadt spricht man im Alltag Tetum, eine der offiziellen Landessprachen. Portugiesisch ist bis heute die Schriftsprache der Regierung, weil viele Ausdrücke – gerade im rechtlichen Bereich – in Tetum gar nicht existieren. Ebenso kennt Tetum keine Zeitformen, also keine Vergangenheits- und Zukunftsform. Diese grammatikalische Eigenheit spiegelt auch das Zeitgefühl, die Mentalität und folglich den gesamten Alltag. Vorausgeschaut wird kaum, weder im Verkehr noch in der Agenda. Falls überhaupt, werden Pläne selten mehr als zwei Tage im Voraus gemacht. Diese Spontanität geniesse ich privat, fordert mir andrerseits beruflich ein hohes Mass an Flexibilität ab. Zurückgeschaut wird ebenso nur bedingt: Die erkämpfte Freiheit wird zwar an vielen Feiertagen zelebriert, die tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit wird jedoch noch mehrere Generationen dauern.

«Taruta mak para» heisst ein Sprichwort auf Tetum. Wortwörtlich übersetzt bedeutet das: Weitermachen, bis man den Lärm hört. Es widerspiegelt gewissermassen die timoresische Mentalität und ist aufgrund der Vergangenheit gut nachvollziehbar. Die Timoresinnen und Timoresen hat-ten bis zur Unabhängigkeit kaum je ein Mitspracherecht, mussten mit wenig auskommen und sich anpassen nach der Devise: Keine Aufmerksamkeit erregen und weitermachen, solange es geht.

So bewundernswert die stoische Ruhe und das Im-Jetzt-Sein der Timoresen sein kann, so beunruhigend ist sie für Nicht-Timoresen. Noch befindet sich Geld aus dem Ölfeld in der Staatskasse, letztere leert sich aber rapide. Aktuellen Berechnungen zufolge wird sie innert der nächsten Dekade komplett aufgebraucht sein, und es fehlt eine konkrete Strategie, wie es danach weitergehen soll. Ebenso fehlt es an Plänen, wie beispielsweise angesichts des rapiden Bevölkerungswachstums mehr Lehrpersonen oder Gesundheitspersonal ausgebildet werden können, um dem aktuellen und künftigen Bedarf an Bildung und Gesundheitsversorgung gerecht zu werden. Taruta mak para. Es bleibt zu hoffen, dass nicht alles mit einem grossen Knall endet.

* Die Einsiedlerin Junia Landtwing (*1995) ist ab Mitte März 2023 während zwölf Monaten bei der Weltbank in Dili, Osttimor, stationiert. Dabei ist sie in Entwicklungs- und Aufbauprojekte in den Bereichen Gesundheit und Bildung involviert. Von ihrer Arbeit, ihren Erfahrungen und Erlebnissen berichtet sie hier in mehr oder weniger regelmässigen Abständen.

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