Harro von Senger: «Wir unterscheiden uns nicht von den Chinesen»
Das Fachgebiet des Juristen und Sinologen Harro von Senger sind chinesische List-Strategien. Von Senger ist in Willerzell aufgewachsen und hat die Stiftsschule besucht. Trotz seiner Professur in Deutschland ist er der Region Einsiedeln treu geblieben.
Sie heissen nicht Kälin oder Schönbächler, sind aber unter dem Mythen aufgewachsen. Wie sind Sie nach Einsiedeln gekommen? Ich bin Bürger von Genf, wohin mein Grossvater, ein Musiker und Komponist aus Bayern, eingewandert ist. Nach Willerzell kamen wir 1950, weil meine Mutter im Bereich einer guten Schule und als begeisterte Schwimmerin an einem See leben wollte. In Willerzell besuchte ich die Primarschule. 1957 konnten wir ein Haus in Willerzell kaufen. Und was hat Sie bis heute in dieser Region gehalten? Willerzell liegt wunderschön, und ich hatte niemals das Bedürfnis, wegzugehen. Ich war befreundet mit den Kindern aus der benachbarten Bauernfamilie Urban Gyr, der ich beim Heuen half. Befreundet war ich mit den beiden Lehrersöhnen, Markus vom Gasthaus Löwen, Paul und Arthur vom Gasthaus Schlüssel, sowie Sepp und Koni im Tschupmoos. Von 1955 bis 1963 besuchte ich die Stiftsschule, wo es mir sehr gefiel. Als «Externer fuhr ich täglich mit dem Velo und im Winter mit dem Postauto in die Schule und zurück,. Wie kamen Sie zum ersten Mal mit China in Berührung? Im August 1963 während eines Besuchs beim befreundeten Ehepaar Hildebrandt, das im Birchli für die Sommerferien ein Haus gemietet hatte. Als ich die Bücher ihrer Bibliothek durchblätterte, hielt ich plötzlich eine chinesische Konversationsgrammatik in den Händen, die ich mir auslieh, ohne sie zurückzugeben (lacht). Mir fielen sogleich die beiden Wörter « či » für «Huhn» und « čʿ i» für «Gattin» auf. Ich fragte mich, wie man sich mit so kurzen Wörtern verständigen könne. Da die Stiftsschule ein humanistisches Gymnasium war, hatte ich ein grosses Interesse an Sprachen entwickelt.
Als Sie die Stiftsschule absolvierten, war sie noch sehr kirchlich geprägt. War es Rebellion, dass Sie sich danach dem kommunistischen China zugewandt haben? Nein, es war reine Sprach-Neugierde, die mich gepackt hat-te. Ich hatte null Interesse an der Politik oder Kultur Chinas. Acht Jahre lang war ich der einzige protestantische Stiftsschüler, aber das war nie ein Thema. Ich emfand die Stiftsschule als sehr liberal. Sie sind Jurist und Sinologe – wie haben Sie diese Gebiete miteinander verbunden? Ich hatte bereits vor der Matura im Selbststudium Russisch gelernt, weil ich mich für die sowjetische Raumfahrt interessierte. Da mich das Rechtsstudium an der Universität Zürich etwas langweilte, ging ich zur «Auflockerung» ins Russisch, wo ich eines Tages einen Studenten aus Macao kennenlernte, der mich ins Chinesisch einführte. Ich sagte meinen Eltern, ich wolle eine Doktorarbeit über chinesisches Recht schreiben, weil ich in der Bibliothek der rechtswissenschaftlichen Fakultät kein einziges Buch über chinesisches Recht gesehen hätte.
Kam es dazu?
Ja, ich schrieb 1969 meine Dissertation über «Kaufverträge im traditionellen China». Dann wollte ich nach China, was aber we-gen des Chaos der Kulturrevolution unmöglich war. Ein Studienkollege aus Taiwan lenkte mich nach Taipeh. Dort studierte ich zwei Jahre Recht. Ich lebte in einem Viererzimmer mit drei chinesischen Kommilitonen. Wegen der «ungenügenden hygienischen Umstände» war ich in dem Studentenwohnheim der einzige westliche Ausländer. Ich hatte keine Mühe mit den einfachen Verhältnissen, war ich doch im Bauerndorf Willerzell aufgewachsen. Danach erhielt ich ein Stipendium für zwei Jahre in Tokyo und darauf für die Volksrepublik China, wo ich als eidgenössischer Austauschstudent 1975 bis 1977 das letzte Jahr der Kulturrevolution unter Mao sowie das erste Jahr nach Maos Tod erlebte. Wie verlief ihr Studium in China?
Die juristische Fakultät war der zweitkleinste Fachbereich an der Pekinger Universität. Sie war eine geheime Fakultät. Ausländische Studenten hatten keinen Zugang. Als westlicher Student konnte man nur chinesische Sprache, Geschichte, Literatur und Philosophie studieren. Im ersten Jahr wählte ich chinesische Geschichte, weil ich mich für Rechtsgeschichte interessierte. Im zweiten Jahr studierte ich Philosophie. «Philosophie» bedeutete marxistischen dialektischen Materialismus und Mao-Zedong-Ideen. Da ich mich in Peking anderen Fächern als dem Recht widmen musste, weitete sich mein Interesse auf die Sinologie aus, und ich wurde später Professor für Sinologie an der Universität in Freiburg im Breisgau. Sie haben die Öffnung und Demokratisierung Chinas erlebt, doch heute scheint das Land mehr und mehr zum autokratischen Überwachungsstaat zu werden – was bedeutet diese Entwicklung? Es hat nie eine Demokratisierung gegeben. Das ist westliches Wunschdenken oder einfach Ignoranz. Die Volksrepublik China ist so geblieben, wie sie immer war – ausser dass seit Maos Tod (1976) die Gesetze wieder eine Rolle spielen. Aber diese werden nach dem Prinzip «Rule by Law» angewendet, was bedeutet, dass sich die politische Führung den Gesetzen nicht unterwirft, sondern über ihnen steht. Das ist eine alte chinesische Tradition. Es gibt in China nicht nur den Konfuzianismus, von dem meist gesprochen wird, sondern auch den Legismus, der den Herrscher über das Gesetz stellt. Genau so ist es in China – es gibt viele Gesetze, aber die kommunistische Partei steht darüber und benutzt diese Gesetze als Instrumente. Das habe ich erkannt, weil ich die offiziellen chinesischen Dokumente und Gesetze lese – im Gegensatz zu anderen Auto-ren, die kein Interesse an der «hölzernen» Amtssprache ha-ben und sich stattdessen an Einzelphänomenen orientieren. Sie haben sich intensiv mit den 36 chinesischen List-Techniken, den sogenannten «Strategemen «, befasst und mehrere Bücher darüber geschrieben. Wer ist nun schlauer, die Chine-sen oder die Europäer? Im alltäglichen Leben, in der Politik und im Geschäftsleben sind alle listig. In der allgemeinen List-Kundigkeit gibt es aber einen Unterschied. Denn bei uns ist die List ausser im Kriegsvölkerrecht sowie Straf- und Zivilrecht kein Thema. Demgegenüber gibt es in China eine allgemeine «List-Kundigkeit». Das bedeutet, dass man sich sehr gut auskennt im Instrumentarium der List, zu dem insbesondere die «36 Strategeme» gehören. Das sind List-Techniken für verschiedene Situtionen. In China legt man grossen Wert auf die «List-Abwehr». Sobald man den Eindruck hat, man werde von einer List bedroht, überlegt man sich die listkundige Reaktion darauf. Das systematische Durchschauen von List zwecks Listabwehr kennt man in Europa nicht.
Zum Beispiel?
Wenn Amerika Taiwan Waffen liefert, interpretiert dies die Volksrepublik China als Strategem Nr. 19 «Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen», also als eine List, mit der die USA China dadurch, dass sie Taiwan aufrüsten, schwächen wollen. Die List versucht die Volksrepublik mittels Gegenmassnahmen zu durchkreuzen. Übrigens gibt Jesus den Rat «Seid klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben ». Die Schlange ist ein Symbol der Listkundigkeit. 2006 habe ich Papst Benedikt geschrieben, er solle sich zu diesem Zitat äussern, was jedoch ausblieb. Aber Papst Franziskus hielt am 6. Januar 2014 eine Predigt ausschliesslich über die-sen Rat. Das führe ich auf meinen Brief zurück. Jesus und jetzt der Papst ermutigen uns also, listkundig zu sein. Ein Buch haben Sie speziell für westliche Manager geschrieben, um die chinesische Mentalität besser zu verstehen – stehen sich China und der Westen heute näher? Nein, dieses Gefühl habe ich nicht. Man behauptet immer wieder, der chinesische Staatsführer Xi Jinping halte sich mit Nationalismus an der Macht. Das mag sicher ein Punkt sein, doch Xi Jinping stützt sich eindeutig auf den Sino-Marxismus. Doch bis heute hört man bei uns von der Rolle weder des Sino-Marxismus noch der 36 Strategem in der chinesischen Politik etwas. So uninformiert ist man hierzulande! Hat sich die gegenseitige Sicht Chinas und des Westens aufeinander verändert? Ja im Westen, nein in China. Hier unterscheidet man heute drei Arten von Beziehungen: China als Partner in globalen Fragen wie Klima, China als wirtschaftlicher Konkurrent und China als systemischer Rivale. So hat man vor zehn Jahren nicht geredet. Man betrachtete China vor allem als wirtschaftlichen Partner. Eine gewisse Feindseligkeit und Angst sind aufgekommen. In China gilt gegenüber dem Westen immer noch das marxistische Klassendenken. Der Westen bedeutet für China vor allem Kapitalismus, und Amerika wird seit jeher scharf kritisiert. Was allerdings den Lebensstandard angeht, gilt der Westen als Vorbild. Bis 2017 wurde der wirtschaftliche Fortschritt Chinas von der Führung als Mittelpunkt betrachtet. 2017 hat sie ein neues Ziel gesetzt – den Chinesen bis 2049 zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China ein schönes und gutes Leben zu verschaffen. So konzentriert sich China auf die eigene Entwicklung, auch gestützt auf globale Wirtschaftsbeziehungen, wobei Kriege, wie jener in der Ukraine stören. Sie sehen also keine Bedrohung, die von China ausgeht? Das höchste Ideal und das endgültige Ziel der Kommunistischen Partei Chinas ist die Verwirklichung des Kommunismus, also die weltweite Abschaffung des Kapitalismus. Aber die «Verwirklichung des Kommunismus» ist ein fernes Zukunftsziel. In den nächsten 100 Jahren sieht man sich im Anfangsstadium des Sozialismus, worin ich keine Bedrohung sehe, zumindest nicht politisch. Chinas wachsende wirtschaftliche Macht wird zu einer Bedrohung für gewisse westliche Unternehmen. Als ein Staat des globalen Südens war China auf der politischen Weltbühne, zum Beispiel in der UNO, seit den 1970er-Jahren schon immer stark, auch als es wirtschaftlich und geopolitisch schwach war. Warum wird China heute im Westen von vielen in erster Linie als wirtschaftlicher und militärischer Riese wahrgenommen?
Lange war das nicht so, und man hat im Westen noch so gerne Geschäfte mit dem «Entwicklungsland » China gemacht und investiert. Doch nun ist China plötzlich die zweitgrösste Wirtschaftsmacht, und man ist alarmiert im Westen, weil man versteht, was man mit den bedenkenlosen wirtschaftlichen Beziehungen angerichtet hat. Dabei habe ich schon 1985 in der NZZ geschrieben, dass in China amtlich verkündet worden sei, man wolle bis 2049 die höchstentwickelten kapitalistischen Länder in ökonomischer Hinsicht einholen. Aber im Westen werden amtliche Verlautbarungen nicht zur Kentnis genommen. Das sei alles Lüge und Propaganda. Man betrachtete China nur unter dem Gesichtspunkt des Geldverdienens. Es gibt auch ein kleines «westliches China» in Taiwan – welches China steht Ihnen näher? Ich habe für beide Sympathien und hoffe, dass der Status Quo zwischen ihnen bestehen bleibt. Was fasziniert sie an der chinesischen Kalligraphie? Mich faszinieren vor allem die ältesten Schriftzeichen. Die wichtigsten Begriffe wurden durch Strichmännchen dargestellt, die wir heutigen westlichen Menschen leicht verste-hen können (zeigt als Beispiel die etwa 3000 Jahre alten Schriftzeichen für «urinieren» und «sehen»). Die Chinesen vor 3000 Jahren hatten keine andere Auffassunggabe als wir heute. Das zeigt die Gemeinsamkeit aller Menschen und dass man sich mühelos verständigen kann, wenn man will. Wir unterscheiden uns in vielen grundlegenden Aspekten nicht von den Chinesen. Mehr und mehr ersetzt sich der Mensch durch Maschinen – welche Rolle spielt die List im Zeitalter künstlicher Intelligenz (KI)? Eine sehr wichtige Rolle. Durch KI stellen sich ganz neue Probleme der Listkundigkeit. Aus chinesischer Sicht geht es etwa darum, wie man eine listige Fälschung zu erkennen vermag, die durch KI erzeugt wird. Gibt es in Willerzell auch ein Stück China? Durchaus. In China findet man für Formationen in der Natur sehr oft einen Namen. Das hat mich inspieriert, die Drusbergkette und die beiden benachbarten Hügel als «schlafende Riesin » zu bezeichnen. Die Drusbergkette ist der Bauch der Riesin und links und rechts davon sind ihre Beine.