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Tagebuch einer Dreizehnjährigen weckt Erinnerungen

Tagebuch einer Dreizehnjährigen  weckt Erinnerungen Tagebuch einer Dreizehnjährigen  weckt Erinnerungen

Der letzten Donnerstag ausgestrahlte Dokfilm lässt bei drei Schwestern viele Eindrücke ans Erlebte hochkommen.

Als hätte die dramatische Flugzeugentführung der Swissair-Maschine am 6.September 1970 erst stattgefunden, kommt es der Schreiberin vor, wenn sie den detaillierten Erzählungen der drei Egli-Schwestern, die Passagiere waren, zuhört, bekräftigt durch das Tagebuch der Jüngsten.

Es hat lange gedauert, bis der Dokumentarfilm zur Entführung einer DC 8 der Swissair durch Mitglieder der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) am 6. September 1970 in die Wüste Jordaniens, endlich fertig erstellt war. Anlässlich der 50-Jahr-Gedenkfeier 2020 mit den nach dieser langen Zeit noch leben-den Crewmitgliedern, Passagieren, Angehörigen und Gästen im Hotel Drei Könige in Einsiedeln wurden dort und im Oratorium des Klosters Sequenzen gedreht und Gespräche mit die-sen direkt betroffenen Zeitzeugen aufgenommen (siehe Artikel Nummer 72 im EA vom 11. September 2020).

Am vergangenen Donnerstagabend wurde nun der von Regisseur Adrian Winkler und Produzent und gleichzeitig Drehbuchautor Laurin Merz konzipierte neunzigminütige Dokumentarfilm unter dem Titel «Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste» auf SRF 1 ausgestrahlt. Dass dabei die momentane Kriegslage im Nahen Osten viele Parallelen zur damaligen Zeit aufweist und sich leider noch nichts zum Positiven verändert hat, ist laut Regisseur Zufall und habe den Zeitpunkt der Ausstrahlung nicht beeinflusst. Sie hätten deswegen einzig noch einige Anpassungen im Film vorgenommen.

Der Film ging unter die Haut

Mit vielen Archivbildern und aktuellen Fotos von Originalschauplätzen, Aufnahmen von nachgestellten Szenen, ausführlichen Fakten zum politischem Hintergrund, Erinnerungen an Verhandlungen des Bundesrats, respektive der Vertreter des Internationalen roten Kreuzes mit den Terroristen und vor allem Erzählungen dreier noch Lebender der Crew und eines Passagiers geben dem Film nebst Klärung und Darstellung von Tatsachen eine packende Dimension der Emotionen und Erfahrungen durch das ganz individuell Erlebte die-ser Personen. Zur Sprache kam auch ein Passagier des ebenfalls entführten amerikanischen Flugzeugs, in welchem die Stimmung wegen der etlichen jüdischen Reisenden viel aggressiver war als in der Swissair-Maschine.

Heidi Hunninghaus Aber auch der Schluss dieses Geiseldramas, das glücklicherweise ohne Tote endete, und die von vielen nicht verstandene und bis heute rätselhafte Freilassung der drei palästinensischen Gefangenen in der Schweiz durch den Bundesrat, wohlverstanden erst im Nachhinein, sind im Film Thema. Und einige wenige Minuten ganz am Ende des Dokfilms sind den Sequenzen der von der Einsiedlerin – und als gut Siebzehnjährige selber Passagierin im entführten Flugzeug – Ruth Schmid-Egli organisierten 50-Jahr-Gedenkfeier im Klosterdorf gewidmet.

Wobei der im letzten Herbst verstorbene ehemalige Wädenswiler Stadtrat und Zürcher Kantonsrat Norbert Kuster, der im Film sehr ausführlich zu Wort kommt und der während drei Wochen kaum zu essen bekommen und Todesangst ausgestanden hatte, seine Tränen nicht zurückhalten konnte und das so intensiv nach einem halben Jahrhundert! Er habe dieses Ereignis einfach immer verdrängt, aber versprochen, eine Wallfahrt nach Einsiedeln zu unternehmen, wenn er aus dieser lebensbedrohlichen Lage befreit werde.

Individuelle Wahrnehmung Bereits an den Solothurner Filmtagen im Januar waren die Einsiedlerin Ruth Schmid-Egli und ihre beiden Schwestern Heidi Hunninghaus und Veronika Pasquinelli-Egli zur Premie-re des Dokumentarfilms eingeladen. Obwohl der Saal mit einem gemischten Publikum voll war, sei es während der Vorstellung mäuschenstill gewesen, äussern sich die drei unisono. Anerkennend meinen sie denn auch, dass der Film sehr neutral und bezüglich der Fakten auf der Sachebene geblieben sei, keine Helden, aber auch keine negativen Gefühle gegenüber der Terroristen heraufbeschworen habe.

Treffen in Einsiedeln

Als jedoch am Schluss Applaus aufbrandete, war ihr Empfinden aufgrund der unterschiedlichen Betrachtung und Gewichtung ganz individuell. Während eine nachdenklich und die andere ganz traurig wurde, überkam die dritte ein Gefühl des Unwohlseins. Diese Tatsache der ganz persönlich gefärbten Wahrnehmung dieses dramatischen Geiseldramas zog sich denn auch durch das ganze Gespräch der drei Schwestern, die sich am letzten Donnerstag, am Tag der Ausstrahlung des Dokfilms auf SRF 1, in Einsiedeln zum Austausch getroffen haben. Und beinahe unglaublich war ihre Feststellung, dass sie miteinander noch nie so konkret und ausführlich über das Erlebte in der Wüste Jordaniens vor über 50 Jahren gesprochen haben.

Sie hätten auch mit ihren Kindern im Kindesalter nicht darüber geredet, um ihnen keine Angst vor dem Fliegen zu machen, und später habe ihnen das Interesse gefehlt oder wie es Veronika auf den Punkt brachte: «Sie haben andere Prioritäten. » Nur Ruth hat ihrem Nachwuchs ab dem Alter von 20 Jahren diese aussergewöhnliche Geschichte ganz bewusst erzählt und ihre Töchter wollten denn auch den Film sehen, während Heidi zumindest hoffte, dass ihre Kinder ihn schauen. Sie selber seien übrigens alle auch nicht traumatisiert von diesem aussergewöhnlichen Ereignis, hätten sie doch nach ihrer Freilassung und der Heimkehr nach New Jersey in den USA sehr viel mit Kolleginnen über das Erlebte gesprochen und sei-en sie unzählige Male eingeladen worden, vor Publikum darüber zu berichten. Begegnung mit der Endlichkeit

Eindrücklich und äusserst spannend waren die facettenreichen und teilweise minutiös detaillierten Beschreibungen von Situationen, die sie in diesen sieben Tagen der Geiselhaft erlebt ha-ben. So zeigten sie vor, wie sie kniend im Sand, die Hände über dem Kopf und umzingelt von bewaffneten Guerillas, erstmals eine eigentliche Begegnung mit dem möglichen Tod empfunden haben. Heidi ergänzte, dass sie noch genau wisse, wie sie zu ihrer Mutter gesagt habe: «Mueti, ich glaub, das überläbed mir nöd.» Für sie sei dieses Gefühl, welches sich in Dankbarkeit gewandelt habe, wohl am meisten präsent, ergänzte Veronika diese Aussage, was von den beiden anderen Schwestern bestätigt wurde.

Ganz speziell waren auch die unterschiedlichen Schwerpunkte in den Erinnerungen von Ruth, Heidi und Veronika. So dachte Ruth, mit gut 17 Jahren die Älteste, oft an die Angst der Frau-en, deren Männer in den Flugzeugen zurückbleiben muss-ten, während sie nach Amman, der Hauptstadt Jordaniens, gebracht worden waren. Und es war ein glücklicher Zufall, dass ihr Vater, der geschäftlich in der Schweiz weilte, nicht mit ihnen mitgereist war. Doch wussten sie alle, dass er sich enorme Sorgen um sie machte, und er tat ihnen sehr leid.

In Amman herrschten Unruhen und es waren ständig einschlagende Bomben oder Schüsse zu hören. Heidi, damals fünfzehnjährig, erschrickt deswegen auch heute noch, wenn sie irgendwo einen Presslufthammer hört. Sie erinnert sich an ein ganz spezielles Erlebnis: Sie musste dringend auf die Toilet-te im Untergeschoss des Hotels und sei dann ganz allein mit waffenbewehrter Begleitung dorthin geführt und bewacht worden, ein unheimliches Gefühl!

Ein faszinierendes schriftliches Zeugnis Das Gedächtnis von Veronika, der Jüngsten des Trios, ist ihr Tagebuch, das sie bereits im jungen Alter von 13 Jahren sehr gründlich und genau geführt hat, gerade auch während dieser Zeit der Entführung. Spannend wie ein Krimi lesen sich ihre englischen Einträge (da die Familie Egli ja nach Amerika ausgewandert war), die detailliert über das Geschehen berichten. Auch hier ist erstaunlich, wie sachlich und präzis sie die Tage in der Gefangenschaft beschrieben hat und was ihr wichtig war. So hat sie als extrem Pflichtbewusste, wie sie auch immer von ihren Schwestern wahrgenommen wurde, gleich mehrmals erwähnt, dass jetzt in Amerika ihre Schule starten würde!

Dieses Tagebuch diente denn während des Interviews mit den drei Schwestern auch immer als schriftliches Zeugnis, war doch die eine und andere Erinnerung an diese Zeit vor über 53 Jahren ein wenig verschwommen, hat-te sie sich gar etwas weg von der Realität bewegt oder stimmten die Aussagen ganz einfach nicht überein. So las Veronika beispielsweise vor, wie sie ihre Schwester Ruth nach den schnellen und chaotischen Ausstiegen über die Notfallrutschen verloren hatten, diese dann aber nach einer kurzen Zeit zur grossen Erleichterung von ihnen und der Mutter auftauchte, nachdem sie unter dem Spalier der Gewehrläufe um das Flugzeug herumgerannt war.

Alle erinnerten sich aber vol-ler Freude, dass sie auf dem Heimflug nach Kloten und bloss vier Tage später auf dem Rückflug nach New York in der ers-ten Klasse sitzen durften, etwas was sie noch nie erlebt hat-ten. Oder dass ihnen ihre Mutter in Amman im Hotelladen kleine Holzkamele gekauft hatte, die sie alle heute noch besitzen.

Die Mutter war prägend Am meisten Gedanken und Sorge hatten sich die drei Teenies während der ganzen Zeit aber um ihre Mutter gemacht, die gesundheitlich angeschlagen, jedoch eine aktive und unerschrockene Frau war. So durfte sie we-gen ihrer geschwollenen Füsse und Beine vorne im Flugzeug sit-zen, wo sie sie hochlagern konnte. Da habe sich die Entführerin neben sie und Heidi gesetzt und ihre Mutter habe sie plötzlich und zum grossen Schrecken der Tochter unverfroren gefragt: «Warum machen Sie das hier überhaupt und haben Sie auch Kinder?» Die Entführerin habe sich auf die Frage eingelassen und ihr geantwortet, dass sie keine Terroristen sondern Freiheitskämpfer seien. Sie wollen nur endlich ihr Land und müssten mit einer solch krassen Aktion auf sich aufmerksam machen, da sie sonst kein Gehör für ihr Anliegen finden würden. Dafür sei sie als Mutter auch bereit zu sterben.

Aus den vielen Aussagen der drei Schwestern spürte man immer wieder die enorm grosse Bindung zur starken Mutter, welche sie noch mehr geprägt hatte als diese eine aussergewöhnliche Station in ihrem Leben, hätten sie doch noch einige schwierige Situationen erlebt. Mit ihrem Optimismus und ihrer Einstellung war sie ihnen stets Vorbild und sie erinnern sich immer wieder an ihr Lebensmotto: «Wenn es schwierig wird, gibt es einen Trost: Es geht vorbei.»


«Welcome home»: Die Geschwister Egli mit ihrer Mutter Anny werden in ihrer amerikanischen Heimat herzlich willkommen geheissen (von links): Veronika, Heidi, Ruth und Anny Egli. Foto: zvg

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