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«Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen»

«Wir sind mit einem blauen  Auge davongekommen» «Wir sind mit einem blauen  Auge davongekommen»

Die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche bewegt sich im Kanton Schwyz auf einem Höchststand. Lorenz Bösch, Präsident der katholischen Schwyzer Kantonalkirche, steht Red und Antwort zur Entwicklung der Kirche in turbulenten Zeiten.

Die katholische Schwyzer Kantonalkirche verliert innert Jahresfrist 2879 Mitglieder. Wie interpretieren Sie diese sinkende Zahl an Katholikinnen und Katholiken im Kanton Schwyz? Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Nach der Publikation der Studie über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz am 12. September 2023 rechneten wir mit eher höheren Austrittszahlen. Es war zu erwarten, dass die Austrittszahl wegen der Diskussion der sexuellen Missbräuche in der Kirche stärker ausfallen würde.

Konfessionslose sind erstmals die grösste Gruppe in der Schweiz. Erleben wir gerade eine Erosion der Religionszugehörigkeit?

Die Religion hat im Alltag der Menschen an Präsenz verloren. Die Kirchenferne wächst. Dadurch sinkt die Austrittsschwelle. Wir müssen damit rechnen, dass sich die Austrittsbewegung weiter fortsetzt. Es gibt im Moment keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Trend umkehrt. Die sichtbare Verankerung von Religion und Kirche in der Gesellschaft hat abgenommen: Die Kirchen stehen dementsprechend vor vielfältigen Herausforderungen. Eine «Neuevangelisierung» ist nicht absehbar.

Was macht das mit der Gesellschaft, wenn das Kirchenwesen laufend an Terrain verliert? Wie sich eine zunehmende Kirchenferne auf die Gesellschaft auswirkt, ist schwierig festzustellen. Die Häufung von Austritten ist ein relativ junges Phänomen. Kulturelle und gesellschaftliche Werte sind nach wie vor stark christlich geprägt. Vielleicht befinden wir uns in einer Übergangsphase. Die Frage ist allerdings, welche Quellen in Zukunft die gesellschaftlichen und kulturellen Werte prägen werden. Ich denke, da hat das Christentum nach wie vor Chancen. Die Kirche muss Wege fin-den, wie sie auf die Zeichen und Bedürfnisse der Zeit reagieren kann.

Kommt es mit dieser Erosion der Kirchen auch zu einem Wertezerfall?

So weit wird es kaum kommen, weil Konfessionslose ja nicht einfach orientierungslos sind. Trotz Kirchenferne bleiben sie mehr oder weniger bewusst von christlichen Werten geprägt: Mit einem Austritt aus der Kirche wirft man ja die gelernten Werte und Muster nicht einfach über Bord. Der Mensch ist ein mehr oder weniger spirituelles Wesen. Menschen, die nicht mehr der Kirche angehören, werden sich deshalb weiter an spirituellen Quellen orientieren. Darin liegt ja eigentlich eine künftige Chance der Kirche. Die Zahlen zeigen auf, dass vor allem Jüngere religionslos sind, am meisten zwischen 25 und 34. Warum das?

Diese Entwicklung ist ein Abbild des Generationenwandels: Das Leben jeder Generation in den vergangenen Jahrzehnten war weniger durch religiöse Gebräuche und Rituale durchdrungen. Damit verlor auch die Glaubensvermittlung in Schule und Familie an Intensität Bei der jüngsten Generation scheint nun eine Schwelle erreicht zu sein, wo man leicht die Kirche verlässt. Wandern die Menschen in die Esoterik ab? Wenn man sich die Regale in den Buchhandlungen anschaut, könnte man diesen Eindruck erhalten. Aber ich kann das nicht beurteilen. Aus der Sicht der Kirchen sollte man eher selbstkritisch feststellen, dass man offenbar zu wenig in der Lage ist, spirituelle Bedürfnisse der Menschen gezielt anzusprechen. Mit welcher Strategie reagiert die Schwyzer Kantonalkirche auf die steigenden Austrittszahlen?

ImVerlaufediesesJahreswirddie Kantonalkirche die aufgegleiste Strategiediskussion abschliessen. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, wie man am besten auf die Zeichen der Zeit reagieren kann. Hierzu braucht es noch die Diskussionen von Ideen und Massnahmen – und wer ist am besten für was verantwortlich. Wir sind gefordert, die Energie und die Finanzen in jene Richtungen zu lenken, die den Menschen zugute kommen. Was bedeuten die sinkenden Mitgliederzahlen für die finanzielle Situation der Kantonalkirche?

Bezüglich Kirchensteuern wirken sich die Austrittszahlen noch nicht stark aus – zumindest bis im Jahr 2030 gehen wir eher von einer noch stabilen Situation aus. Welche Trends dann bestimmend werden, ist offen. Allenfalls wird man den Gürtel enger schnallen müssen.

Müssen irgendwann Immobilien der Kirche verkauft werden? Noch werden die kirchlichen Infrastrukturen genutzt. Die Umnutzungen von sakralen Gebäuden ist kein zentrales Thema. Abgesehen davon wäre das ein komplexes Thema. Die einfache Lösung gibt es da nicht. Und grosse Gewinne sind auch nicht zu erwarten. Wir sprechen von Spezialimmobilien, die oft denkmalgeschützt sind. Zudem bleiben Kirchen und Kapellen spirituelle Orte auch für kirchenferne Menschen. In vielen Fällen würde sich die Frage stellen, ob solche Bauten nicht von politischen Gemeinden übernommen werden müssten, wenn die Kirchgemeinden nicht mehr in der Lage wären, diese zu unterhalten, und sie die Gemeinden als Kulturräume weiter der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Inzwischen populäre Einzelbeispiele taugen nicht als allgemeine Lösungsrezepte. An Pfarreiheimen mit Sälen und Räumen für Vereinsbedürfnisse besteht heute sicher kein Überangebot im Kanton. Pfarrhäuser können auch anderweitig vermietet werden. Konfessionelle Mischnutzungen von Kirchenräumen gibt es punktuell schon heute. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der Kirche? Zwei, drei Trends sind diesbezüglich zu berücksichtigen: Aus der Sicht der Kirchen sollte man eher selbstkritisch feststellen, dass man offenbar zu wenig in der Lage ist, spirituelle Bedürfnisse der Menschen gezielt anzusprechen. Wohin und in welcher Dynamik bewegt sich die Weltkirche? Was geschieht mit dem von der Kirche eingeschlagenen synodalen Weg? Und zu guter Letzt: Wie gehen die Kirchgemeinden mit der absehbaren Personalknappheit um? Viele Mitarbeiter werden bald pensioniert: Sie hinterlassen Lücken, die von jetzt in der Ausbildung stehenden Geistlichen und Diakonen nicht gefüllt werden können. Ohne den Dienst von Freiwilligen kommt die Seelsorge nicht mehr aus: Hier ist die Kirche aufgerufen, Lösungen zu fin-den.

Können Krisen die Menschen wieder zur Kirche zurückholen? Das ist sehr schwer zu beurteilen. Jeder Mensch reagiert anders auf Krisen, findet eigene Formen, wie mit krisenhaften Situationen umgegangen werden kann. Wir leben in turbulenten Zeiten, in denen sich die Lebensumstände spürbar verändern. Das wirkt sich naturgemäss auf die Psyche der Menschen aus. Die Kirche ist aufgerufen, sich ernsthaft mit diesen Themen auseinanderzusetzen, um Menschen, die Unterstützung suchen, abzuholen.


Lorenz Bösch, Präsident der katholischen Schwyzer Kantonalkirche: «Die Religion hat im Alltag der Menschen an Präsenz verloren. Die Kirchenferne wächst. Dadurch sinkt die Austrittsschwelle. Wir müssen damit rechnen, dass sich die Austrittsbewegung weiter fortsetzt.» Foto: zvg

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