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«Unser Schulsystem ist nicht krank, aber es ist stark belastet»

«Unser Schulsystem ist nicht krank, aber es ist stark belastet» «Unser Schulsystem ist nicht krank, aber es ist stark belastet»

Der SP-Kantonsrat und Sekundarlehrer Franz Camenzind aus Einsiedeln steht Red und Antwort zum Schulsystem im Kanton Schwyz: «Die Lehrerinnen und Lehrer stehen unter Druck. Psychische Probleme von Jugendlichen nehmen zu.»

Ist unser Schulsystem krank?

Nein, unser Schulsystem ist nicht krank, aber es ist sicherlich stark belastet: In den letzten Jahren sind die Schulen unter Druck geraten: Neue Anforderungen und Erwartungen sei-tens der Gesellschaft sind hinzugekommen. Es ist nicht einfach für das Schulwesen, Schritt zu halten mit einer sich beschleunigenden Dynamik. Die Schulen sind in den Brennpunkt der Gesellschaft geraten. Die Schulen müssen vielerlei Ansprüchen genügen und immer mehr Aufträge erfüllen. Wie wirkt sich dies auf die Lehrerinnen und Lehrer aus? Bei manchen löst dies Stress aus: Lehrpersonen müssen mehr bürokratische Arbeiten erledigen, haben sich auf mitunter anspruchsvolle Elterngespräche einzustellen und sollen eine sel-ten homogene Schulklasse in den Griff kriegen. Dank GELVOS (geleitete Volksschule Schwyz) arbeiten alle Lehrpersonen mit einer Leitung zusammen. Das passt nicht allen. Früher war eine Lehrperson ihr eigener Chef, der Schulinspektor war weit weg, sie konnte machen, was sie wollte. Das hatte aber auch Nachteile: Wer offensichtlich unprofessionell arbeitete, hatte wenig zu befürchten. Das heutige Schulsystem bietet auch Vorteile: Eine Lehrperson ist weniger isoliert als früher, arbeitet in einem Team, kann von einem Qualitätsmanagement profitieren. Es gibt immer noch sehr viel Gestaltungsraum und Freiheit für eine Lehrerin, einen Lehrer.

Wieso ist die Burnout-Quote unter den Lehrerinnen und Lehrern hoch? Jedes Individuum geht anders mit Anforderungen um. Und jede Burnout-Situation ist spezifisch und basiert auf verschiedenen Gründen. Vermutlich spielen Selbstwahrnehmung und Selbstkompetenz eine Rolle, wie man einen Umgang finden kann mit Druck. Oftmals gibt eine Person, die nicht so gut mit Druck umgehen kann, den Druck weiter: Und mit Druck Menschen bilden, dies funktioniert im Schulwesen bestimmt nicht. Lebenserfahrung hilft sicherlich, den Druck bes-ser einordnen zu können. Andererseits kann auch eine ältere Lehrperson, die bereits das ganze Leben im Schuldienst verbracht hat, noch kurz vor der Pensionierung in ein Burnout geraten. Fakt ist: Vor allem jüngere Lehrpersonen steigen aus dem Beruf aus – auf der Primarschulstufe ist es jede fünfte Lehrperson.

Aus welchen Gründen kündigen Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen im Kanton Schwyz? Das ist individuell sehr verschieden. Bei den einen geht es um Karriereplanung und Weiterbildung, andere wollen nicht mehr im selben Team weiterarbeiten und wechseln deswegen in eine andere Schule. Sicherlich mag auch der Lohn eine Rolle spielen: In den umliegenden Kantonen ist das Gehalt für Lehrpersonen meist höher. Im Kanton Schwyz werden Klassenassistenzen im Vergleich zu anderen Kantonen eher geduldet als gepflegt. Müssten Klassenassistenzen aufgewertet werden? Die Klassenassistenzen sind Gold wert und machen eine prima Arbeit – beispielsweise Unterstützung bei Aufträgen oder Betreuung in Klassen mit Jugendlichen, die erst Deutsch lernen. Die Assistenten wären überfordert, wenn sie als Ersatz für fehlende Lehrerinnen und Lehrer im Einsatz stehen müssten: Schliesslich haben die Assistenten in der Regel keine Lehrerausbildung absolviert. Klassenassistenzen übernehmen denn keine Verantwortung, sie haben ausschliesslich Hilfsfunktion. Dass ihre Arbeitsbedingungen kantonal abgeglichen werden und auch überlegt wird, wie sie mit einer Ausbildung unterstützt werden könnten, macht sicher Sinn. Wie wirkt sich der Lehrpersonenmangel auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus? Es gibt naturgemäss einen direkten Zusammenhang zwischen Qualifikation der Lehrpersonen und dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler: Je bes-ser ausgebildet die Lehrperson, desto höher der Lernerfolg. Die Qualitätssicherung im Schulunterricht liegt bei den Schulleitungen: Sie sind gefordert, die Qualität im Unterricht zu sichern. Auf welche Art und Weise könnten für die Lehrerinnen und Lehrer attraktivere Rahmenbedingungen im Kanton Schwyz geschaffen werden? Um die Bildungsqualität im Kanton Schwyz zu sichern und zu verbessern, hat am Mittwoch der Lehrerinnen- und Lehrerverband des Kantons Schwyz (LSZ) gemeinsam mit dem Verband der Schulleiterinnen und Schulleiter des Kantons Schwyz (VSLSZ) der Regierung eine Petition übergeben. Drei Forderungen stehen im Zentrum der Petition: Zur Entlastung der Klassenlehrpersonen braucht es zwei Klassenlehrerstunden auf allen Stufen. Um die Wettbewerbsfähigkeit mit unseren Nachbarkantonen auszugleichen, muss der Lohn angepasst werden. Zur seriösen Umsetzung des neuen Beurteilungsreglements braucht es mehr personelle Unterstützung (zum Beispiel Klassenassistenzen).

Welche Rolle spielt der Lohn der Lehrerinnen und Lehrer in Sachen attraktivere Rahmenbedingungen?

Ich finde, Lehrpersonen sind gut bezahlt. Sicherlich kommt im Lohn eine gesellschaftliche Anerkennung des Lehrerberufs zum Ausdruck. Ich glaube kaum, dass ein höherer Lohn die Attraktivität des Schuldienstes gross verändern würde. Andere Punkte sind wichtiger: Viele Lehrerinnen und Lehrer kämpfen zum Beispiel damit, dass die Klassen selten homo-gen sind. Kann, muss und soll man alle Schülerinnen und Schüler in dieselbe Klasse stecken? Alle Schülerinnen und Schüler in einem Klassenverband zu integrieren, ist ein hehres Ziel. Die Bandbreite bei der Schülerschaft ist sehr gross. Alle Schülerinnen und Schüler unter einen Hut zu bringen, stellt für die Lehrpersonen eine grosse Herausforderung dar.

Was bedeutet dies konkret? Manche geraten deswegen in ein Burnout. Und die Schülerinnen und Schüler, die vielleicht am falschen Platz sind, geraten selber unter Druck, leiden unter Überforderung. Man hat sich keinen Gefallen gemacht, die Inklusion über alles zu stellen. Zu hinterfragen wäre, ob es ein Recht für alle geben soll, im gleichen System unterrichtet zu werden. Vermutlich wären einige Schülerinnen und Schüler in einer Kleinklasse besser aufgehoben, wo sie idealer gefördert werden können. Wie kommt das bei Ihnen an, dass sich der Schwyzer Regierungsrat gegen generelle Lohnerhöhungen bei der Lehrerschaft ausspricht? Es braucht meiner Meinung nach keine generelle Lohnerhöhung bei den Lehrerinnen und Lehrern, sondern eine Anpassung an einen Durchschnittsindex. Ich finde, dass es heikel ist, von einer generellen Lohnerhöhung auszugehen: Schliesslich landen wir dann schnell in einer politisch-gesellschaftlichen Diskussion rund um den Lehrerlohn.

Die Schwyzer Schulleitungen erhalten zusätzliche Ressourcen von bis zu 3,5 Millionen Franken. Müssten auch die Lehrerinnen und Lehrer mehr Ressourcen erhalten? Die Lehrpersonen kommen gleichsam in den Genuss die-ser Gelder, indem die Schulleiter diese zusätzlichen Ressourcen idealerweise an die Lehrerinnen und Lehrer weitergeben. Die Schulleitungen wurden in den letzten Jahren mit immer mehr Aufgaben und Verantwortung betraut. Der Ausbau der Ressourcen hat da – wie auch bei den Lehrpersonen – nicht Schritt gehalten.

Sorgt der ausgerufene Reformstopp für eine Entlastung bei der Lehrerschaft? Es bringt nichts, während zwölf Monaten Reformen aufzuschieben. Das ist eine Scheinbotschaft: Diese sorgt sicherlich nicht für eine spürbare Entlastung für die Lehrerinnen und Lehrer. Abgesehen davon sind wir ja mitten in einer Reform: Eine neue Beurteilung wird umgesetzt. Statt von einem Reformstopp zu reden, wäre es besser, Reformen langfristig und nachhaltig aufzugleisen.

Wie schätzen Sie die Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Schwyz ein? Die PH steht einer Schere von Ansprüchen gegenüber: Einerseits muss sie das akademische Rüstzeug gemäss den universitären Anforderungen sicherstellen, andererseits soll sie künftige Lehrpersonen auf den Alltag vorbereiten mit Klassenführung, Umgang mit ADHS, Elterngesprächen, Organisation oder «Notenbuchhaltung», Aufgaben, die Lehrpersonen nur im engen Praxisbezug lernen können. Immer mal wieder sprechen Studierende etwas abschätzig über ihre Ausbildung, das darf nicht sein. Werden die Lehrerinnen und Lehrer ausreichend gut ausgebildet in Sachen Mobbing an den Schulen? Das ist ein wichtiger Punkt: Mobbing-Prävention wird zu wenig gelehrt an der PHSZ. Ich habe mir eine Mobbing-Kompetenz in all den Schuljahren selber angeeignet, ein Gespür dafür entwickelt, wo und wie sich Mobbing abspielen könnte. Wichtig ist, dass Lehrerinnen und Lehrer die Situation unter die Lupe nehmen und das Gespräch suchen mit allen Beteiligten. Wenig hilfreich ist es, wenn Lehrpersonen den Kopf in den Sand stecken und finden, dass die Schülerinnen und Schüler das selber unter sich ausmachen sollen. Bei Mobbing gibt es null Toleranz, Mobbing beeinträchtigt das Lernklima einer Schule massiv. Schlecht ist es, wenn die Mobbingopfer schliesslich die Schule verlassen müssen. Oftmals sind Lehrerinnen und Lehrer bei diesem Thema überfordert, weil Mobbing-Prävention kaum gross im Fokus der Ausbildung steht. Wie taxieren Sie die Arbeit des Schwyzer Erziehungsrats? Der Erziehungsrat ist in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten unter Druck geraten. Womöglich gäbe es die eine oder andere strukturelle Optimierungsmöglichkeit. Wichtig ist, dass möglichst transparent informiert wird über die diversen Bildungsvorstösse.

Wie geht es den Jugendlichen in Einsiedeln? Wir sind hier in Einsiedeln sehr privilegiert: Wir haben eine wunderbare Landschaft und eine lebendige Landwirtschaft, engagierte Eltern und eine Jugend, die einen starken Zusammenhalt hat: Man kennt einander, zumindest im gleichen Jahrgang. Hinzu kommen ein brei-tes, reges Vereinsleben, eine offene Jugendarbeit und mehrere engagierte Kirchgemeinden, die sich für die Jugendlichen einsetzen. Allerdings ist Einsiedeln keine Insel in dieser Welt – etwas ist während und nach der Corona- Pandemie passiert: Auch hierzulande nehmen psychische Probleme und Depressionen bei Jugendlichen zu. Offensichtlich geraten Jugendliche in diesen Zeiten häufiger in eine Krise als früher. Junge Menschen warten oft lange, bis sie Hilfe bekommen, weil es zu wenig Plätze gibt und Fachkräfte fehlen.

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