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Ein Jahr nach dem Erdbeben: «Diese Welt gibt es nicht mehr»

Ein Jahr nach dem Erdbeben:  «Diese Welt gibt es nicht mehr» Ein Jahr nach dem Erdbeben:  «Diese Welt gibt es nicht mehr»

Das Erdbeben in Südanatolien vom vergangenen Februar hat Zehntausende Menschenleben und Existenzen ausgelöscht. Für Altun und Mehmet Kara ist die Katastrophe auch heute präsent.

Viele Einsiedler kennen Altun und Mehmet Kara – freundliche Menschen, die den Gästen ihres Imbiss-Lokals gegenüber des Bahnhofs immer mit einem Lächeln begegnen. Sie und ihre Familie sind gut integriert. Wie die meisten Kurden haben sie keine einfache Lebensgeschichte, aber vor einem Jahr ist ein grosser Kummer hinzugekommen: Das Erdbeben, das ihre Heimatregion in der Osttürkei praktisch dem Erdboden gleichgemacht hat. Zwei Erdstösse haben in der Region und im nahen Syrien Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Menschen getötet. 60’000 Todesopfer sollen es offiziell sein.

Zum Jahrestag sind die katastrophalen Folgen des Erdbebens und die nur schleppenden Aufräumarbeiten nochmals kurz in den Medien «aufgeflackert », nun ist es schon wieder still. Für die Weltöffentlichkeit scheint die Angelegenheit erledigt, aber Altun und Mehmet ha-ben die Katastrophe tagtäglich vor Augen. Ihre sonst so freundlichen Gesichter wirken verzweifelt und hilflos, Tränen fliessen. Kontakt zur kurdischen Heimat nicht verloren Obwohl sie in der Schweiz aufgewachsen sei, habe sie immer sehr kulturnah gelebt und sich bemüht, ihren Kindern die kurdische Kultur weiterzuvermitteln, erzählt Altun. Darum habe sie auch nie den Kontakt zu ihrer Heimatregion verloren. Altun und Mehmet Kara stammen beide aus der Region Elbistan, einer Stadt mit rund 140’000 Einwohnern in der Provinz Kahramanmaras, wo das Epizentrum der beiden Beben am 6. Februar 2023 lag. Sie besuchten regelmässig ihre Familien und Freunde und bauten sich dort eine eigene kleine Welt auf. «Diese Welt gibt es nicht mehr», sagt sie apathisch. Ihr Haus liegt in Trümmern wie ein Grossteil der Stadt.

Selbst jene Menschen, die das Beben überlebt hätten, sei-en traumatisiert, und viele würden ein Leben lang von ihren Ängsten geplagt, erzählt Altun, die das Gebiet im vergangenen Jahr besuchte. «Der Schock ist den Menschen ins Gesicht geschrieben. Wenn es zu Nachbeben kommt, geraten die Menschen sofort wieder in Panik», beschreibt sie die Situation. «Sie leben mit dem Schmerz – wenn man das überhaupt noch Leben nennen kann.» Viele Kinder seien vermisst oder hätten ihre Eltern und Familien verloren.

Kein Einkommen und steigende Preise Hinzu kommt die wirtschaftliche Not, denn durch die Erdstösse wurde viel Infrastruktur zerstört, wodurch viele Menschen ihre Arbeit verloren. Gleichzeitig seien Produkte und Dienstleistungen viel teurer geworden, erklärt Altun. Aus diesem Grund sei ein grosser Teil ihrer Familien und Freunde bereits in andere Regionen der Türkei oder ins Ausland ausgewandert.

Das Erdbeben zerstörte nicht nur viele Häuser, sondern hinterliess auch viele einsturzgefährdete Bauten. Davon zeugen die Zelt- und Container-Siedlungen in der ganzen Region. Selbst in den Containern seien die Wohnverhältnisse sehr eng und primitiv. Die Regierung interessiere sich kaum für die Not, und selbst jene, die per Los eine der begehrten Neubauwohnungen vom Staat bekämen, müssten einen grossen Teil daran selbst bezahlen. Die Solidarität unter den Menschen sei sehr gross gewesen, vor allem dort, wo die staatliche Hilfe ausgeblieben sei. Doch dann hätten sich vielfach die staatlichen Hilfsdienste vorgedrängt, nur um vor den Medien als Retter zu posieren, erzählt sie verbittert.

Nur noch private Hilfe Leider war es auch mit vielen Hilfslieferungen ähnlich. «Wir haben anfänglich viele Hilfslieferungen organisiert, aber lei-der konnten wir oft gar nicht selbst mit dem Lastwagen ins Erdbebengebiet, sondern ka-men nur bis Istanbul», erzählt Mehmet. «Dort sagte man uns – ihr übergebt uns die Lieferung, und wir werden die Güter verteilen. » Die mangelnde Kontrolle darüber, wie die Hilfe verteilt wird, ist einer der Gründe, weshalb die beiden aufgehört ha-ben, in der Schweiz Geld für die Erdbebenregion zu sammeln. Heute bringen sie nur noch private Hilfe in ihre Heimat.

Sie wollten auch nicht ständig die Menschen hier daran erinnern, meint Altun. Es sei wichtig für sie, darüber re-den zu können, aber auch sie müsse das Ganze zeitweise verdrängen, um weiter arbeiten und leben zu können. «Die Menschen, die in unser Lokal kommen, wollen eine gute Atmosphäre und die sollen sie auch bekommen.» «Wir leben damit, aber es ist unsere eigene Welt», sagt Mehmet traurig.

Foto: Eugen von Arb

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