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Neutralität ist Überlebensinstrument

Neutralität ist Überlebensinstrument Neutralität ist Überlebensinstrument

SEITENBLICK: MILITÄR UND MILIZ

FRITZ KÄLIN

Neutralität ist kein «Image», sondern ein Überlebensinstrument der Schweiz.

Jedes Mal, wenn es in Europa zu einem Krieg kommt, gerät die Schweizer Neutralitätspolitik von den Konfliktparteien unter Druck. Für die Bevölkerung und die Medien gilt keine Gesinnungsneutralität. Wohl aber für den verfassungsmässigen Auftrag an Bundesrat und Bundesversammlung, die Unabhängigkeit und die Neutralitätspflichten der Schweiz gegenüber allen Mächten zu wahren. Diesen Auftrag hat der moderne Bundesstaat seit 1848 zu unser aller Wohl erfüllt. Dazu musste die Schweiz im Zweiten Weltkrieg manchmal anders agieren, als es im Interesse der Alliierten gewesen wäre. Viele in- und ausländische Stimmen nehmen den seinerzeitigen «Imageschaden» bei jeder Gelegenheit zum Anlass, an die bundesrätliche Neutralitätspolitik ihre interessensgeleiteten Moralansprüche zu stellen. Neutrale haben die Qual der Wahl

Die Neutralitätspflichten ergeben sich aus dem für die Schweiz zwingend geltenden Neutralitätsrecht, festgelegt in der Haager Konvention aus dem Jahr 1907. Sie regelt, wie sich kriegführende und neutrale Staaten während eines Krieges einander gegenüber zu verhalten ha-ben. Kriege beginnen aber nicht erst, wenn Armeen das Feuer eröffnen. Kriege werden von langer Hand mit allen verfügbaren machtpolitischen Mitteln vorbereitet.

In dieser Vorkriegsphase, die sich über Jahre oder Jahrzehnte erstrecken kann, sondieren potenzielle Kriegsgegner laufend, welche Staaten auf wessen Seite stehen. Sanktionen sind ein besonders geeignetes Mittel, um die Drittstaaten dazu zu nötigen, für eine Seite Farbe zu bekennen. In dieser Vorkriegsphase gibt das Völkerrecht keine Handlungsvorgaben. Die Regierung der unabhängigen Schweiz muss selbstständig entscheiden, mit welcher Neutralitätspolitik sie sich gegen machtpolitische Vereinnahmungen verwehren will. Denn solche schädigen zwangsläufig unsere global vernetzte Exportwirtschaft. Wer sich mehr dem Wohlstand als der Unabhängigkeit der Schweiz verpflichtet fühlt, fordert rasch, der Bundesrat soll den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen.

Nicht-Neutrale haben keine Wahl

Wie einfach haben es da im Vergleich nicht neutrale Länder, die ihre Aussen-, Handels- und Sicherheitspolitik längst nicht mehr eigenständig regeln. Im Zweifelsfall tun die Regierungen solcher Länder das, was im Interesse ihrer Schutzmacht (zum Beispiel der USA) ist. Solange im Gegenzug für diese Bevormundung die Weltwirtschaft im Schutze der amerikanischen Dominanz florierte, tröstete wachsender Wohlstand über die fehlende Unabhängigkeit hinweg.

Im Machtkampf zwischen Washing-ton und Moskau um die Ukraine lässt sich für europäische Länder Bündnistreue aber nicht mehr ohne wirtschaftliche Einbussen einhalten. Zudem sollen sie genau jene militärischen Fähigkeiten wiederaufrüsten, die sie im wohligen Schatten der US-Schutzmacht haben verkümmern lassen. Und all dies könnte erst ein Vorgeschmack sein für das, was «Uncle Sam» von seinen Verbündeten abverlangen wird, um Chinas Weltmachtambitionen zu vereiteln. Denn schon heute ist China weltweit für eine Mehrzahl der Länder der wichtigere Handelspartner als die USA. Beide Grossmächte sondieren aufmerksam, welche Länder auf wessen Seite stehen.Auch die Schweiz steht unter Beobachtung. Wer keine Kriege mehr verpassen will, sollte früh Farbe bekennen.

Die Regierung der unabhängigen Schweiz muss selbstständig entscheiden, mit welcher Neutralitätspolitik sie sich gegen machtpolitische Vereinnahmungen verwehren will.»

geboren 1986 in Einsiedeln, Matura an der Stiftsschule Einsiedeln 2005. Anschliessend Lizentiat/Doktorat an der Universität Zürich 2012/2016. Kälin ist Experte für Sicherheitspolitik und Militärgeschichte und im militärischen Rang als Fachoffizier (Hauptmann) tätig.

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