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«Über allen Gipfeln ist Ruh»

«Über allen Gipfeln ist Ruh» «Über allen Gipfeln ist Ruh»

0.00 bis 3.00 Uhr: Drei Stunden im stockdunklen Wald – Text und Fotos: Victor Kälin

Ein Gleiches *

(Wandrers Nachtlied II) Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Goethe * Als Goethe 1780 dieses Gedicht schrieb, gab es keine Motorräder und keine Flugzeuge. 240 Jahre später ist das anders. Und so war «über allen Gipfeln keine Ruh», als ich mich vor wenigen Tagen zur Erkenntnisexpedition «Drei Stunden im Wald» aufmachte. Es waren ja nicht irgendwelche Stunden, sondern die drei ersten eines jeden Tages: Mitternacht bis 3.00 Uhr in der Früh. Da hätte ich doch erwartet, dass über allen Gipfeln einigermassen Ruh sein müsste, selbst wenn das aufgesuchte Gebiet der Klosterwald am Friherrenberg war. Also siedlungsnah, mit Strassen zur Linken und zur Rechten sowie einem Flugkorridor darüber hinweg.

* Ganz Einsiedeln schlief denn auch noch nicht, als ich mich vom Dorf verabschiedete und durch das Klostergeviert Rich-tung St. Benedikt zum Wald hochstieg. Ich tat dies kräftigen Schrittes, für meinen Fitnessstand ziemlich zügig und in der festen Absicht, keine mulmigen Gefühle aufkommen zu las-sen. Ganz alleine im stockdunklen Wald? In Einsiedeln passiert doch nichts, zumal der Stundenschlag der Klosterglocken überall hörbar war. Ein sicherer Ort, greifbar nah. Aber dennoch … Was passiert, wenn irgendwelche Schmuggler oder gar Menschenhändler exakt in dieser mondlosen Nacht die Dunkelheit nützen, um von A nach B zu kommen und ich einfach im falschen Zeitpunkt am falschen Ort bin, wie es dann in der Mitteilung der Kantonspolizei heissen würde?

Wenig zweifelausräumend war auch die Waldsilhouette, die sich als schwarze Wand über meinem Weg aufbaute. Der «Eingang » war ein kleines Loch. Dahinter das Nichts. Ich fühlte mich wie eine Maus vor dem Loch, hinter dem die Katze wartet.

* Als alter Pfadfinder weiss ich natürlich, dass die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Deshalb stapfte ich auch dann tap-fer weiter, als ich den Weg nicht mehr so genau ausmachen konnte. Doch ich weiss ja aus meiner Erinnerung, wie dieser sich zur Eselweid hochschlängelt.

Kein Teil meiner Erinnerung war jedoch die Baustelle in der ersten Kurve. Den Bagger, der für die Wegsanierung dort hinaufgekarrt ist, nahm ich lediglich schemenhaft war. Was ist das? Die Räuberbande? Mit einem gestohlenen Geldtransporter? Ich tat, was auch Bruce Willis und Tom Cruise getan hätten: keine Bewegung, kein Mucks, keine Atemzüge. Ich machte mich sozusagen unwahrnehmbar. Es half. Nicht nur ich, alles war ruhig. Der Bagger war ein Bagger und der Weg war geflickt.

* Wer nicht weiss, wie man aus einer Mücke einen Elefanten machen kann, der soll mal alleine durch den stockdunklen Wald laufen. Ein Baumstrunk wird zum Wegelagerer, ein harmloses Rascheln zur Wildschweinrotte und ein lauer Luftstoss zur blutsaugenden Fledermaus. Die Sinne schärfen sich. Ich höre genauer. Rieche intensiver. Sehe bes-ser (wenigstens mit der Zeit). Irgendwann war ich deshalb froh, die lichte Eselweid zu erreichen und die Geisterbahn von Kurvenweg hinter mir zu haben. Einige Rindli schlafen noch nicht. Das Gebimmel ist vertraut. Glocke ist Glocke.

* Alles andere als vertraut erscheint mir allerdings der kurze Aufstieg zur Feuerstelle Gschwänd. Es ist grottenschwarz. Kein Weg, keine Orientierung. Ich packe die Taschenlampe aus und verstosse gegen meine Überzeugung. Doch der Überlebenstrieb setzt sich durch. Wenn schon keine Kidnapper mich verschleppen, will ich auch nicht in ein Tobel stürzen. Die «Pfunzel» leistet gute Dienste. Das Bänkli mit der schönen Aussicht über Gross und den Sihlsee ins Breitried und weiter zum Fluebrig hätte ich sonst nie und nimmer gefunden. Hier lasse ich mich nieder. Hier will ich spüren, was es heisst, mitten in der Nacht gottverlassen alleine im Wald zu sein.

Als erstes spüre ich, dass Gott mich nicht verlassen hat. Aus Gross und Einsiedeln kündigen die Glocken den neuen Tag an, wobei die Grosser etwa anderthalb Sekunden Vorsprung haben. Genaugenommen müssen die Grosser jeden Tag früher zu Bett als wir Dörfler und jeden Morgen auch früher aufstehen. «Armi Chögä».

* Ans Bettgehen war bei mir noch lange nicht zu denken. Meine Erkenntnisexpedition trat erst jetzt, hier auf der Höhe, in die entscheidende Phase. Hier habe ich Aussichten und Einsichten. Hier habe ich die Ruhe über allen Gipfeln, selbst wenn ab und an unten am Sihlsee noch immer ein Töff ins Ybrig knattert. Und einmal ists ein Esel, dessen «J-AA» irgendwie auch knattert.

* Und so sitze ich bewegungslos auf dem Bänkli. Ich denke nichts. Tue nichts. Will nichts. Zehn Minuten. Eine halbe Stunde. Eine ganze. Es ist ruhig geworden. Um mich und in mir. Wahrnehmbarer. Sinnlicher. Fühlte ich mich am Anfang als Eindringling, meine ich jetzt, irgendwie in den Wald zu gehören. Er hat mich aufgenommen. Nichts ist zu hören. Und ja, es gibt sie, die Momente der absoluten Ruhe. – «In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde, ruhest du auch.» * Eine zirpende Grille mahnt mich, nicht einzuschlafen. Und mir fällt auf, dass ich ansonsten kein Tier wahrgenommen habe. Keine krabbelnde Maus, kein tappender Igel, kein rufender Kauz. Und nicht einmal eine Krähe. Von Reh, Luchs und Bär ganz zu schweigen. Ich mache mich auf, tiefer in den Wald.

* Der Weg führt mich weiter über den Breitweg. Da ich nicht ahnen konnte, ausgerechnet eine mondlose Nacht zu erwischen, muss ich wieder zur Taschenlampe greifen. Irgendwie schade. Aber ein absolutes Gebot der Vernunft. Doch auf jedem Baumstrunk lasse ich mich nieder, lösche das Licht und lösche meine Denkenskraft, bin einfach dort. Bin einfach. * Der Wald umfängt mich, nimmt mich sanft in seine Arme. Ich möchte auf dem Moosboden liegen, riechen und schnuppern. Mich klein machen und einschlafen, als gäbe es kein morgen.

* Goethe verfasste das Gedicht am Abend des 6. Septembers 1780 auf einem Berg bei Ilmenau (Thüringer Wald). Dort schrieb er die Verse mit Bleistift an die Bretterwand einer Jagdhütte. Die auf den ersten Blick missverständliche Überschrift «Ein Gleiches» beruht auf der von Goethe 1815 vorgenommenen Einordnung dieses Naturgedichts in seine Werkausgabe. Dort reihte er es im Anschluss an das Gedicht «Wandrers Nachtlied» ein. «Ein Gleiches » bedeutet daher: ein Gedicht gleichen Themas, also ein weiteres «Wandrers Nachtlied».

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