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«Haben seitens Privatpersonen und von Firmen grosszügige Hilfen erhalten»

«Haben seitens Privatpersonen und von Firmen grosszügige Hilfen erhalten» «Haben seitens Privatpersonen und von Firmen grosszügige Hilfen erhalten»

Gemeinden und Private sind gefordert: Laut dem Bund wird sich die Anzahl der Flüchtlinge bis Ende Jahr verdoppeln. Fiona Elze, Leiterin des Asylbereichs im Kanton Schwyz, steht Red und Antwort zur Flüchtlingswelle aus der Ukraine.

ANDREAS SEEHOLZER

Was ist aus Ihren Augen, Sie sprechen ja Russisch, bei den Ukrainerinnen und Ukrainern bemerkenswert? Ich war überzeugt, dass ich die russische Sprache beruflich nie wieder im Kontext Kriegsvertriebene verwenden werde. So kann man sich irren. Bemerkenswert bei den Ukrainern finde ich ihre Direktheit, ihre Initiative und auch ihre Herzlichkeit. Ihre Direktheit zeigt sich darin, dass sie unverblümt nach Leistungen fragen und die Informationen so-fort untereinander austauschen. Das kann dann sehr fordernd daherkommen? Ja, insbesondere in der Übersetzung. Im Russischen gibt es den höflichen Imperativ, und wenn dieser übersetzt wird, kommt das je nach dem etwas sehr direkt rüber. Das teilweise fordernde Auftreten hat meiner Meinung nach auch damit zu tun, dass die bescheidene, aber wirksame soziale Sicherheit der Sowjetunion im Postkommunismus keinen Platz mehr hatte. Man muss für sich selber sorgen und für das, was einem zusteht, kämpfen. Wie steht es um die Gemeinden, gibt es da Herausforderungen?

Jede Menge! Innert kürzester Zeit hat sich die Anzahl in der Asylsozialhilfe mehr als verdoppelt. Dadurch kommt das ganze System massiv unter Druck: Fehlende personelle Ressourcen, fehlende Deutschlehrer, fehlende Kapazität bei Ärzten, fehlende Unterkünfte und gegenwärtig insbesondere der so genannte «Rückfluss» aus den Gastfamilien. Diese Ukrainer müssen dann in derselben Gemeinde wieder neu untergebracht werden. Und dann die ganzen sozialrechtlichen Fragen: Da kommen Schutzbedürftige mit Hund, Katze und Auto. Solche mit Geld und solche ohne. Und nach wie vor viele offene und noch nicht geregelte Fragen. Es gibt täglich Anpassungen und Änderungen. Und im Bereich der Zuweisungen?

Da sind wir alle gefordert. Wir ha-ben noch nie so viele Geflüchtete in so kurzer Zeit aufgenommen. Per 5. Juli waren es schweizweit 58’000 und in Schwyz Tausend ukrainische Schutzbedürftige. Der Bund rechnet bis Ende Jahr mit 100’000 Asyl- und Schutzgesuchen.

Wie läuft es in den Gemeinden? Der Kanton hat zwar einen recht grossen Puffer geschaffen und die Unterbringungskapazität verdreifacht. Aber die Unterbringung und Wohnsitznahme erfolgt immer in der Gemeinde. Und diese leisten teilweise Unglaubliches. Es gibt Gemeinden, die innert kürzester Zeit weit über dem Verteilschlüssel lagen, weil aufgrund von Beziehungsnetzwerken sehr viele Ukrainer dort im Privatsektor unterkamen.

Konkret?

Lachen, Wollerau, Einsiedeln oder Küssnacht am Rigi. In der Gemeinde Schwyz wurde eine grosse Kollektivunterkunft bereit gemacht. Auch kleine Gemeinden wie Steinen oder Unteriberg kamen proaktiv auf uns zu. Man kann nur loben, wie man in fast allen Gemeinden die Ärmel hochkrempelte. Aber auch Privatpersonen: Sie tragen erheblich dazu bei, dass die Aufnahme der ukrainischen Schutzsuchenden so geordnet verlaufen konnte. Ohne Gastfamilien ist die Aufnahme all dieser Schutzsuchenden nicht möglich.

Achtzig Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer leben im Kanton Schwyz bei Gastfamilien. Ja, es waren zeitweise bis zu achtzig Prozent – und damit sind wir schweizweit vorne dabei. Ich denke, dies zeigt ein gutes Bild der Schwyzer. Wir haben seitens Privatpersonen oder von Firmen grosszügige Hilfen erhalten. Ich bin seit fast 25 Jahren in diesem Bereich tätig, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Es zeigt eine andere Seite von Schwyz. Das ist sehr positiv – wenn man bedenkt, dass wir eher ein konservativer Kanton sind, in dem eher Nein gesagt wird.

Und der Kanton?

Wir haben die Kapazitäten hochgefahren und verdreifacht. Wir verfügen zudem noch über eine befristete Reserve – für alle Fälle. Damit müssen wir mit den Flüchtlingen nicht unter die Erde – alle sind oberirdisch untergebracht. Das war uns wichtig, da gerade jene aus den Vororten Kiews oder aus dem Osten der Ukraine tagelang in Luftschutzkellern waren. Wir sind jetzt schon in der Winterplanung.

Winterplanung?

Ja, denn nicht alle unsere temporären Unterkünfte sind winter-fest. Und wenn die Schätzung des Bundes sich bewahrheitet, dann werden wir noch weitere 760 Schutzsuchende und noch etwa 120 reguläre Asylsuchende aufnehmen müssen. Wie schätzen Sie die Rückkehrbewegung in die Ukraine ein? Auch hier fliegen wir auf Sicht. Im Moment ist die Anzahl Rückkehrer erstaunlich gering. Ich glaube, dass wir Ende Juli mehr wissen. Einerseits hat die Registrierung für den Wiederaufbau von zerstörtem Wohneigentum begonnen – und andererseits beginnt am 1. September das neue Schuljahr. Ist das Heimkehren nicht auch eine Frage der Sprache?

Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Auch wenn in neuerer Vergangenheit das Ukrainische sich gegen Osten ausgedehnt hat: In vielen Teilen im Osten hat man seit jeher Russisch gesprochen. Ich glaube grundsätzlich, dass es für jene aus dem Osten eine sehr komplexe Frage ist. Wird die Zahl der möglichen Rückkehrer überschätzt? Im Moment wird die Rückkehrbewegung noch überschätzt. Gemäss SEM sind es bis dato gerade mal an die 200 Personen schweizweit. Bringen die geplanten Aufbauhilfen Ukrainerinnen und Ukrainer dazu, zurückzukehren? Ja, wenn für das Rückkehrgebiet eine gewisse Sicherheit gegeben ist. Gegenwärtig ist es jedoch so, dass keiner mit Gewissheit sagen kann, ob es Russland «nur» um den Osten oder doch um das ganze Land geht. Nochmals zu den privaten Aufnahmen. Gibt es viele Fälle, in denen Flüchtlinge aufgenommen wurden und es dann doch nicht funktioniert hat? Solche Fälle gibt es – aber gemessen an der Anzahl sind es erstaunlich wenige. Wir haben zwei Infoanlässe gemacht und die Gastgeber informiert. Da ist sehr viel Wille vorhanden, den Extraschritt zu machen. Wir ha-ben aber auch gemerkt, dass es für viele ein Engagement auf Zeit und keine dauerhafte Einrichtung ist.

Wie lange bleibt jemand bei einer Gastfamilie?

Das ist unterschiedlich. Aber Gastfamilien müssen sich wenigstens für drei Monate verpflichten.

Und danach?

Danach verlängern Gastfamilien ihr Engagement– oder es kommt zu einem Wechsel in eine andere Gastfamilie oder in eine eigene Unterkunft. Entscheidend ist die Begleitung durch Gemeinden und Kanton. Wie läuft das? Unterschiedlich. Es gibt Gemeinden, die haben explizit eine Person angestellt, die sich um die Gastfamilien kümmert – beispielsweise Küssnacht, andere haben das nicht. Der Kanton hat Caritas den Auftrag erteilt, die bestehenden, noch nicht realisierten Angebote von Gastfamilien zu prüfen, ob diese sich eignen und noch aktuell sind. So können wir den Gemeinden Alternativen anbieten, wenn eine Gastfamilie sich vom Engagement zurückzieht. Daher nimmt Caritas Schweiz immer noch gerne Angebote von Gastgebern entgegen.

Wie viele solche Plätze gibt es?

In der Datenbank für den Kanton Schwyz, die wir von Campax übernommen haben, gibt es immer noch 250 Angebote von Gastfamilien. Diese Datenbank wird gegenwärtig von Caritas für die Gemeinden aufbereitet. Sind Frauen im Allgemeinen für die Behörden die einfacheren Flüchtlinge? Tendenziell erlernen Frauen schneller unsere Sprache. Insbesondere Frauen, die aus einem patriarchalen System stammen, gewinnen bei uns: Sie gewinnen an Freiheit, können eine Ausbildung machen. Mütter wiederum profitieren davon, dass sie nicht denselben Statusverlust erleben wie die Männer: Die Männer werden erst einmal vom Brotverdiener zum Soziahilfebezüger. Die Frauen und Mütter hingegen behalten den Status. Und wie bei uns Schwyzern auch: Die Damen der Schöpfung geraten weniger mit dem Gesetz in Konflikt. Bei der aktuellen Flüchtlingswelle aus der Ukraine sind viele Frauen mit Kindern dabei. Wie wirkt sich das aus? Bei der sozialen Integration ist die Ausgangslage einfacher und bei der Arbeitsmarktintegration schwieriger: Vor allem dann, wenn die Kinder noch klein sind. Es ist für Ukrainerinnen selbstverständlich, auch als Mutter von kleinen Kindern arbeiten zu gehen. Die Kinderbetreuung ist bei uns jedoch nicht so ausgebaut wie in der Ukraine. Dort gibt es Krippen, in denen man ab zwei Monaten das Kind abgeben kann – wenn nicht die Grossmutter zu ihm schaut oder schauen kann. Zu Afghanistan. Wie sehen Sie die Frauen, die dort unter dem Regime der Taliban leben? Ja, die furchtbare Lage in Afghanistan geht beinahe unter: Insbesondere für die Frauen in den Städten ist es grauenvoll. Gestern an der Hochschule und heute ohne Zukunft und Recht am Herd. Für mich sind diese Frauen aus den Grossstädten Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Es ist eine menschenunwürdige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Diese Frauen haben sich das bisschen Freiheit mühsam erkämpft: Von den Vätern, Männern, Brüdern und Cousins. Die Taliban sind vielleicht gute Krieger, aber ein Land mit vier-zig Millionen führen: Das können sie nicht. Auf dem Rücken der Frauen wollen sie eine Handlungsfähigkeit demonstrieren. Das ist einfach lächerlich – und wen das beeindrucken soll, weiss ich nicht.

Fiona Elze, Abteilungsleiterin Asyl- und Flüchtlingswesen beim Kanton Schwyz. Foto: Andreas Seeholzer

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