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Kahlschlag

FANNY REUTIMANN

Selbst der geduldigste Mensch ist irgendwann am Ende seiner Geduld angelangt. Insbesondere, wenn man Letztere lange genug strapaziert.Wie oft hatte mein lieber Dani mich darauf hingewiesen, dass er einen Dschungel auf dem Balkon nicht mag! Doch ich ignorierte jeglichen Wink konsequent, selbst wenn er mit dem Zaunpfahl daher kam. Schlimmer noch, ich heckte laufend neue Ideen aus, wie man unseren Balkon in ein blühendes Paradies verwandeln könnte.

Es blieb nicht beim blossen Aushecken und so wuchs in den vergangenen Wochen diese von Dani so viel zitierte «grüne Hölle» heran. Das sonnige und heisse Wetter leistete einen nicht unwesentlichen Beitrag zum üppigen Wachstum. Und plötzlich erkannte ich Dani nicht mehr wieder. Wild entschlossen griff dieser sonst so sanftmütige Mensch zu einer Machete und war im Begriff, sich einen Weg durch all das Grünzeug Richtung Balkonbrüstung zu bahnen. Ich versuchte es mit gutem Zureden. Half nichts. Versicherte ihm, ich würde das Wachstum einschränken, indem ich keinen Dünger mehr gäbe. Prallte an ihm ab. Stattdessen fuchtelte er gefährlich nahe mit der Machete an meinem ach so sehr gehätschelten Rosenbäumchen herum. Ein Kahlschlag schien unabwendbar.

Ein entsetzter Schrei entwich meiner Kehle. Die Pflanze hatte ein kleines Vermögen gekostet und begleitete mich schon seit Jahren! Aufs Schlimmste gefasst stellte ich mich schützend vor das unschuldige Gewächs. Da hörte ich ganz in der Ferne dieses vertraute, beharrliche Piepen. Mein lieber Dani lag neben mir und das einzig Ungeduldige an ihm war das energische Reis-sen an der gemeinsamen Bettdecke.

* Fanny Reutimann (56) sieht gewisse Vorteile darin, dass nicht alle Träume in Erfüllung gehen. Auf ihrem Balkon wird es diesen Sommer munter weiterwachsen.

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