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Wie drei Schwestern

Wie drei Schwestern Wie drei Schwestern

Wie eine ukrainische Flüchtlingsfamilie in Einsiedeln aufgenommen wurde

Über 13’000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind inzwischen in der Schweiz angekommen. Einige Tausend von ihnen wurden privat untergebracht – so wie die Familie Onufryk aus Kyiv. Seit gut drei Wochen ist sie in Sicherheit in Einsiedeln. Sie lebt nun zusammen mit Schweizern im gleichen Haus.

WOLFGANG HOLZ

Zu dritt sitzen sie um den grossen Esszimmertisch aus Holz. Wie drei Schwestern wirken sie – obwohl sie sich erst seit ein paar Tagen beziehungsweise seit drei Wochen kennen: Berti Odermatt, Marianna Onufryk, Marina Riedi. Wie in Tschechows berühmtestem Drama eint die drei Frauen eine gemeinsame Sehnsucht. In ihrem Fall ist es die Sehnsucht nach Frieden – denn dort, gut 2000 Kilometer östlich vom Klosterdorf entfernt, haben Putins Soldaten Tod und Zerstörung über ihr Nachbarland gebracht.

«Wenn der Anlass nicht so traurig wäre …» «Wenn der Anlass nicht so traurig wäre», sagt Berti Odermatt, «könnten wir uns wirklich rund-um über unsere neue Gemeinschaft freuen.» Denn so gut verstehen sich die drei Frauen nach kurzer Zeit schon.

Berti und Oswald Odermatt gehört das grosse Haus am Unterbinzenweg in Einsiedeln. Beide haben spontan Wohnraum angeboten, um die ukrainische Flüchtlingsfamilie Onufryk aufzunehmen – die seit Anfang März im Klosterdorf weilt. Nach einer strapazenreichen Odyssee mit dem Auto durch ihre von Granaten und Raketen unter Beschuss stehende Heimat (EA 19/2022) wohnen sie nun sicher in Einsiedeln.

Marianna Onufryk, Mutter von vier Kindern und verheiratet mit Serhii, sind die Verzweiflung und der Kriegsschrecken noch immer ins Gesicht geschrieben. Doch inzwischen hat sie sich schon etwas in Einsiedeln eingelebt. «Ich fühle mich da zu Hause, wo meine Familie lebt. Und da ich in den Karpaten aufgewachsen bin, liebe ich die Berge und Hügel hier rund ums Dorf.» Einkaufen war sie schon im Denner und im Coop. «Diese Läden ähneln unseren Foraund Novus-Supermärkten in der Ukraine», erklärt sie. Auch das «Tischlein-deck-dich» hat sie schon kennengelernt. «Das Einsiedler Bier schmeckt übrigens wirklich sehr gut.» Sagts und lächelt Marina an.

Selbstgefertigte Willkommensschilder

Marina Riedi, die Dritte am Tisch, ist gebürtige Russin aus Moskau. Verheiratet mit einem Betriebsökonom aus Einsiedeln, Mutter zweier Söhne und seit 16 Jahren Nachbarin von Berti Odermatt. Sie war diejenige, die vor drei Wochen die Familie Onufryk im Haus Odermatt empfing – weil die Hauseigentümer noch in Deutschland einen Besuch bei ihren Enkeln abstatteten. Erst vor wenigen Tagen ka-men sie zurück.

«Ich habe vor unser Abreise noch mit Irina Bilyavska gesprochen und ihr spontan meine Bereitschaft signalisiert, zu helfen und Raum für sechs Flüchtlinge parat zu machen», erzählt Berti Odermatt. «Die Hausschlüssel habe ich meiner Nachbarin Marina als Verwalterin und Dolmetscherin sozusagen übergeben, um die Flüchtlinge dann in Empfang nehmen zu können.» Ehemann Oswald habe vor der Fahrt nach Deutschland sogar noch selbstgefertigte Willkommensschilder auf Ukrainisch in kyrillischer Schrift mit Friedenstaube entworfen und aufgehängt. Die Buchstaben kopierte er aus dem Internet.

Marianna aus der Ukraine war es anfangs etwas mulmig zumute. Denn, wie musste sich eine Familie auf der Flucht vor den Russen fühlen, in Einsiedeln ausgerechnet von einer Russin empfangen zu werden. «Ich war anfangs sehr misstrauisch, und ich spreche eigentlich aus Prinzip kein Russisch», versichert Marianna. Mit Einheimischen spreche sie Ukrainisch, mit Ausländern Englisch. Und nun eine Russin als Ersthelferin? Very strange.

Doch Marina Riedi wollte und will einfach nur spontan helfen. «Mich treibt die Solidarität an gegenüber einem Nachbarvolk, mit welchem ich mich verbunden fühle. Ich agiere aus der Pflicht als Mensch, anderen Menschen, die leiden und ihrem Schicksal überlassen sind, zu helfen. Das ganze Geschehen betrachte ich als ein Anliegen der gesamten Menschheit. Auch mein christlicher Glaube bestärkt mich in meinen Taten, das Gute zu tun und Mitmenschen zu helfen.» Hilfe im Alltäglichen Die beiden Frauen verstehen sich schnell gut, und Marina hat Marianna und ihre Familie in einigen Belangen unterstützt: beim Arztbesuch, bei der Suche nach einer Sportaktivität für Kinder und beim Sammeln der Second-hand-Kleider. Sie war mit ihr einkaufen und spazieren. Ja, sie erklärte ihr sogar, wo der Bio-Abfall hin-term Haus entsorgt wird. Marina verbringt mit ihrer «neuen Familie » mittlerweile so viel Zeit, dass sie ihre eigene Familie vernachlässigt. «Manchmal kocht einer meiner Söhne etwas», sagt Marina und lächelt.

Apropos Sohn. Während des Gesprächs huscht gerade Sohn Lew durch die Küche. Der 13-Jährige ist autistisch und blind. Doch wie sicher und ohne sich irgendwo anzustossen er sich durchs Haus bewegt – er tastet sich virtuos wie ein Trommler von Möbelstück zu Möbelstück – wirkt faszinierend und zeigt, wie wohl er sich schon im neuen Zuhause fühlt. «Neulich kam er zu mir, beschnupperte meine Hand und küsste sie anschliessend », erzählt Berti Odermatt. «Das fand ich sehr rührend. » Dass sie ab und zu Dinge im Haus plötzlich nicht mehr an ihrem gewohnten Platz findet, weil Lew sie spontan woanders deponiert hat, sieht sie ganz entspannt.

Das Haus neu belebt Überhaupt freut es Berti Odermatt, die fünf eigene Kinder hat, die alle längst erwachsen sind, dass nun das Haus neu lebt – dank der Kinder der ukrainischen Flüchtlingsfamilie. Denn da ist ja auch noch Melania, die elfjährige Schwester von Lew, die den ganzen Tag neugierig durchs Haus tigert und ihre neue Welt erkundet. Mit ihr verständigt sich Berti Odermatt per Google-Translator, deutsch-ukrainisch, auf dem Smartphone. Ihre ältere Schwester Eva-Maria hat Einsiedeln dagegen schon wieder verlassen. Sie ist zu ukrainischen Verwandten nach New York geflogen. «Sie möchte Schauspielerin werden», erklärt Mutter Marianna. Kaum zu glauben. Ehemann Serhii, begeisterter Hobbygärtner, betreut Lew und würde aber auch gerne im Garten arbeiten, um seine Leidenschaft dafür auszuleben.

«Gestern hat mich Melania inständigst angefleht, bloss keine Peperoni auf die Pizza zu schneiden, die ich machte. Am Ende gabs dann Pizza Margerita mit Tomatensauce.» Berti Odermatt, die mütterliche Seele im Haus, nimmts gelassen. Ihre Spaghetti Bolognese seien neulich ebenfalls gut bei den Gästen angekommen – sie weiss, was Kindern schmeckt. Sie und Ehemann Oswald zeigten sich umgekehrt gerührt, als sie bei ihrer Heimkehr aus Deutschland vor ein paar Tagen von der ukrainischen Familie mit einer köstlichen Hühner-Suppe zum Abendessen empfangen wurden.

Über den Krieg wird kaum gesprochen »Unsere Alltagsgewohnheiten haben wir teilweise angepasst», sagt Berti. Nur: «Wir beide wollen nicht, dass die Kinder plötzlich Bilder aus dem Krieg in der Ukraine auf der Mattscheibe flimmern sehen.» Über den Krieg wird im Haus kaum gesprochen. «Marianna und ihre Familie können so lange hier bleiben, wie sie es brauchen», sagt Berti Odermatt grosszügig. Nur eine kurzfristige Betreuung mache keinen Sinn. «Sie sollen in Würde in ihrem vorerst neuen Zuhause weiterleben können. » Die S-Aufenthaltsberechtigung für ukrainische Flüchtlinge hat Familie Onufryk bereits in Altstätten beantragt. Nur Sohn Svjatoslav ist noch in Lwiw in der Westukraine – das mittlerweile auch beschossen wird. «Er ist nicht unzufrieden, er ist ja Student und die Vorlesungen an der Universität haben wieder begonnen », sagt Mutter Marianna. Sie selbst wäre eigentlich auch wieder gern in ihrer Heimat. «Von hier aus kann ich nicht viel für mein Land tun!»

Eine Art Schicksalsgemeinschaft (von links): Marina Riedi, Marianna Onufryk und Berti Odermatt. Foto: zvg

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