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Was Sprache verbirgt und was sie offenlegt – eine aktuelle Befragung

Was Sprache verbirgt und was sie offenlegt – eine aktuelle Befragung Was Sprache verbirgt und was sie offenlegt – eine aktuelle Befragung

SEITENBLICK: FRAG-WÜRDIG

ELENA HINSHAW FISCHLI

Würde ich mich je «Sessling» oder «Sicherling» nennen – oder eine solche Bezeichnung durch Dritte pas-send für mich finden? Nein. Und wohl auch keine Person würde sich diese Zuschreibung geben, die die-sen Seitenblick liest, in dem ich wiederum eine Wortschöpfung vertiefter betrachte, weil ich sie der Frage würdig finde. Seit Kindesbeinen beschäftigt mich ein besonderer Begriff, zuerst beängstigend-diffus, später zu stummem Fragen und einem Nachdenken führend, wofür mir aber als Kind die Worte fehlten. Heute kann ich meine Befragung und Erkenntnis dazu formulieren und nicht nur mein Unbehagen gegenüber dem Begriff benennen, sondern habe eine Alternative dafür gefunden.

Aus aktuellem, beunruhigendem Anlass kommt uns dieses Wort seit Wochen täglich und in gehäuftem Gebrauch entgegen: Flüchtling, Flüchtlinge. Oft auch in Zusammensetzungen wie Kriegsflüchtlinge, Flüchtlingsgruppen, Flüchtlingsunterkünfte, Flüchtlingsstatus. Eines möchte ich vorneweg klarstellen: Wirklich wesentlich ist, wie wir geflüchteten Menschen begegnen – viel wichtiger, als das stimmige Wort zu verwenden, welches ihrer Lebenserfahrung und den politischen Umständen, in denen sie sich vorfinden, entspricht.

Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich den Begriff des Flüchtlings kritisch beleuchten. Im Deutschen gibt es ihn nur in der männlichen Form – und unbewusst verknüpfen wir deshalb damit vor allem Männer. Ein Grossteil der schweizerischen Initiativen, welche der Aufnahme und dem Bleiberecht von Geflüchteten kritisch gegenüber standen, hat diese Lesart auch durch die Bilder auf Plakaten zementiert. Potenziell kriminelle Männer, raffgierige Männerhände, die es auf unsern Wohlstand absehen, die ausnützen und «dunkel» daherkommen, blickten uns von allen möglichen Werbeflächen entgegen. Doch gerade jetzt – und oft zuvor – sind es vor allem Frauen, minderjährige Jugendliche und Kinder, die aus bedrohten und umkämpften Gebieten der Gefahr entkommen wollen und ihr Zuhause hinter sich lassen müssen. Das Wort Flüchtling bildet diese grossen Gruppen von flüchtenden Menschen sprachlich nicht oder höchst ungenau ab.

Zudem trägt das Wort die besondere Endung «-ling», die nicht einfach zufällig dranhängt, sondern mehrfache Bedeutung hat. In deutscher Sprache wird diese Endung erstens als Verkleinerungsform verwendet wie zum Beispiel in den Wörtern Säugling, Winzling, Sämling. Zweitens kommt in ihr auch oft etwas Abschätziges zum Ausdruck, wie es uns der Eindringling, Wüstling, Emporkömmling vor Augen führt. Und drittens wird damit oft eine Person in einer Abhängigkeitssituation bezeichnet, die auf einer niederen Stufe der Hierarchie steht, wie zum Beispiel der Prüfling, der Höfling, der Lehrling. Warum beschäftigt und irritiert mich dieses Wort schon seit ich den-ken kann? Es sind wohl vor allem zwei Gründe. Der wohl wichtigste: Seit meinen frühesten Jahren gehören durch Flucht geprägte Menschen zu meinem Leben. Mein Vater hatte das Pestalozzidorf Trogen erbaut für Kinder aus vielen Ländern, die durch den Krieg zu Waisen wurden. Oft war ich mit ihm dort. Mein ältester Bruder war ebenfalls als Waisenkind in meine Familie gekommen, nachdem alle seine Geschwister und seine Eltern während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden sind. Nie haben wir ihn oder die Kinder im Pestalozzidorf Flüchtlinge genannt. Warum? Weil wir sie mit so vielen gegenwärtigen Eigenschaften wahrgenommen haben? Weil wir uns scheuten, an ihre unvorstellbar schmerzliche Vergangenheit zu rühren? Vielleicht.

Ebenso bedeutungsvoll war zudem die Tatsache, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin und dass meine Muttersprache in der Bezeichnung dieses traumatischen Geschehens etwas vollkommen anderes in den Mittelpunkt stellt. Die italienische Bezeichnung für Flüchtling lautet rifugiato oder rifugiata: eine oder einer, die oder der in einem Refugium angekommen ist. «Rifugio» – so wurde auch meine liebste Berghütte genannt in den Dolomiten, wo meine Nonna wohnte. Damit ver-band ich einen gemütlichen, schlichten, heimeligen und warmen Raum, wo wir zusammen mit anderen as-sen und Karten spielten, wo wir geschützt waren vor Wind und Kälte und neue Kräfte tankten für unsere Wanderung am nächsten Tag.Welch andere Wirklichkeit, welch andere Betonung, welch andere Wertung kommt in diesem Wort für einen geflüchteten Menschen zum Ausdruck!

Während der deutsche Begriff den Menschen auf die Erfahrung der Flucht festlegt, in der überhasteten, der Gefahr und Bedrohung entfliehenden Bewegung das zentrale Hauptmerkmal sieht, die Menschen auf eine traumatische Episode fixiert, die nie zu enden scheint und manchmal sogar als unecht in Frage gestellt wird, betont das italienische Wort für die identische Erfahrung – so wie übrigens auch das englische und französische – das Angekommen-Sein in einem geschützten, sicheren Raum. In einem Raum, wo Kräfte gesammelt werden können für den weiteren Weg.

Im deutschen Sprachgebrauch finden wir in letzter Zeit jetzt manchmal Bezeichnungen wie Schutzbedürftige oder Schutzsuchende anstelle des Ausdrucks Flüchtlinge. Das zeigt, wie sich etwas in unserer Wahrnehmung bewegt und verändert. Damit rückt auch auf deutsch das in den Fokus, was Menschen, die geflüchtet sind, am dringendsten benötigen: Schutz, Ruhe, Sicherheit. Für mich lassen diese Bezeichnungen den Abstand zwischen meiner Muttersprache und dem Deutschen etwas geringer werden. Darf ich mit einem kleinen Gedankenspiel en-den? Wie wäre es, wenn wir statt Flüchtlinge sagen und schreiben würden: in sicherem, geschützten Ort Angekommene?

Elena Hinshaw Fischli (1951) ist Psychotherapeutin, Verlegerin, Autorin und langjährige Mitarbeiterin ihres verstorbenen Lebenspartners, Filmemacher Karl Saurer. Sie wohnt seit über dreissig Jahren in Einsiedeln.

«Man findet manchmal Bezeichnungen wie Schutzbedürftige oder Schutzsuchende anstelle des Ausdrucks Flüchtlinge. Das zeigt, wie sich etwas in unserer Wahrnehmung bewegt und verändert.»

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