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«Das Versorgungssystem ist gut, aber anfällig für Störungen»

«Das Versorgungssystem ist gut,  aber anfällig für Störungen» «Das Versorgungssystem ist gut,  aber anfällig für Störungen»

Soll man einen Notvorrat halten? «Ja, Bund und Kantone empfehlen es», sagt Peter Reichmuth, Sekretär des Volkswirtschaftsdepartements Schwyz. Er zeigt auf, wie der einzelne Bürger vorsorgen kann, und erklärt, wie der Bund die Versorgung unseres Landes sichert.

JOHANNA MÄCHLER

Das Thema Notvorrat steht in Ihrer täglichen Arbeit wohl eher am Rand, nicht wahr? So ist es. Ich wende nur wenige Tage im Jahr für dieses Thema auf. Aber es hat wegen der Pandemie und verschiedener Versorgungsengpässe wieder an Bedeutung gewonnen. Seit einigen Jahren wird wieder darüber gesprochen. Wie hat sich der Notvorrat seit der Nachkriegszeit bis heute verändert?

Nach 1945 empfahl der Bund, einen Notvorrat für bis zu drei Wochen anzulegen. Diese Vorratshaltung war unbestritten, denn die Menschen damals hatten die Risiken ganz anders eingeschätzt. Der Notvorrat wurde aus einer inneren Überzeugung zur Notwendigkeit gemacht. Nun haben sich die Essgewohnheiten teils stark verändert. Welche Güter des täglichen Bedarfs sollen heute eingelagert werden? Die Grundnahrungsmittel sind dieselben geblieben. Heute empfehlen wir Nahrung für sieben Tage, Wasser für drei Tage. Man soll einen Mix finden zwischen Produkten, die man kalt essen kann, und solchen, die gekocht werden müssen. Zu diesem Zweck wird ein Gaskocher empfohlen. Auch raten wir, jene Produkte an Lager zu nehmen, die man ohnehin gerne isst. Und zwar möglichst in der Nähe der Küche. Beides hilft mit, dass die Lebensmittel im Umlauf bleiben und nicht ablaufen.

«Aber das brauche ich doch nicht», sagen wohl viele. Was denken Sie, wie kommen die jüngsten Empfehlungen an, dass man sich einen Notvorrat halten soll? Ich glaube, dass die Bürger in einem kleinen Bereich, in dem sie eigenständig handeln können, dies letztlich auch tun möchten. Gleichzeitig laufen im Hintergrund auf Ebene Bund und Kantone viele Vorsorgemassnahmen und Eventualplanungen für die wirtschaftliche Landesversorgung. Das gibt Sicherheit. So können wir sagen, dass die Bevölkerung weitgehend unbesorgt sein kann. Aber Versorgungsengpässe können passieren, was die Corona-Pandemie in ihren Anfängen exemplarisch aufgezeigt hat. Innert kürzester Zeit waren Mehl, Teigwaren oder WC-Papier mit Lieferengpässen verbunden. An welche Versorgungsengpässe denken Sie? Und in welchen Zeiträumen? Um beim Lebensmittelbereich zu bleiben: Es sind Stromausfälle und Cyberattacken. Hier gibt es Szenarien, dass diese Ereignisse bis zu drei oder vier Tage dauern könnten. Das würde die Versorgung stark belasten beziehungsweise verunmöglichen, denn vom Strom hängt fast alles im Wirtschaftsleben und auch im privaten Leben ab. Es wird nichts mehr verarbeitet, nichts mehr verpackt, nichts mehr transportiert. Im Haushalt würde vieles nicht funktionieren. Für eine solche Notlage ist der Notvorrat gedacht. Nebst Lebensmitteln ist ein Radio mit Batterien sinnvoll. Hinzu kommen Kerzen und Zündhölzer. Gibt es beim Bund eine Liste der Risiken? Der Bund hat die Risiken skaliert: Aktuell stellt die Corona- Pandemie das höchste Risiko dar. An zweiter Stelle steht die Stromunterversorgung. Hier gibt es Szenarien, dass dies in den kommenden Jahren eintreffen könnte, bedingt durch eine Verkettung vieler unglücklicher Zufälle. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass der Bund und die Stromversorger das Thema sehr ernst nehmen.

Kürzlich sagte der Delegierte der wirtschaftlichen Landesversorgung an einer Tagung, dass mit Strommangel und Lieferengpässen zu rechnen sei. Die Frage sei nicht mehr «ob es passiert, sondern wann». Ist das nicht «Alarmitis»? Wir stellen gelegentliche Versorgungs- oder Lieferengpässe in verschiedenen Lebensbereichen fest, aber nicht alles wird medial aufgegriffen. Der Bund hat aus solchen Gründen beispielsweise im vergangenen Jahr die Schmerzmittelverkäufe gesteuert: pro Person eine Packung. Denn ja, das Räderwerk kann vorübergehend gestört sein. Niemand will aber auf «Alarmitis» machen. Es geht darum, zu informieren. Denn man muss schon sehen: Alles wird «just in time» geliefert, und es gibt eine hohe Abhängigkeit vom Ausland. Die weltweite Vernetzung ist alltäglich geworden, vor allem durch die Digitalisierung. Fakt ist: Das Versorgungssystem ist gut, aber anfällig für Störungen. Da ist kein Platz für Fehler. Welche Produkte oder Dienstleistungen des täglichen Bedarfs erachtet der Bund als überlebenswichtig?

Die Landesversorgung hat definiert, welche Produkte lebenswichtig sind: Lebensmittel, Heilmittel, Telekommunikation, Elektrizität, Heizöl und Treibstoffe. Störungen im Bereich Treibstoffe können wir in England beobachten, ein anderes Beispiel sind unterbrochene Verkehrswege, wie die «Ever Given» im Suezkanal gezeigt hat. Der Rhein könnte zu wenig Wasser führen, auch dies würde Verzögerungen in der Lieferkette von Gütern nach sich ziehen. In vielen Bereichen hat der Bund zusammen mit der Privatwirtschaft, den Importeuren und Branchenverbänden wirkungsvolle Massnahmen entwickelt. Etwa die Pflichtlager, welche die Versorgung der Bevölkerung für drei bis sechs Monate garantieren. Wie viele solcher Pflichtlager gibt es in der Schweiz? Diese gibt es an verschiedenen-Orten in der Schweiz und für verschiedene Bereiche. Es sind grosse Heizöltanks, oder im Lebensmittelbereich ist es etwa die Reismühle in Brunnen, die einen gewissen Bestand an Vorräten hält. Dann gibt es Lager im Heilmittel-, im Dünger- und im Treibstoffbereich. In den vergangenen Jahren mussten einige der insgesamt 300 Lager – ohne öffentliches Aufsehen – auch ab und zu angezapft werden. Sind in einem Ernstfall die drei bis sechs Monate verstrichen, kommen weitere staatliche Massnahmen zum Tragen. Wann würde in einem Ernstfall der Bund eingreifen? Der Bund greift erst ein, wenn die Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, die Bevölkerung mit den lebenswichtigen Lebensmitteln und Gütern zu versorgen. Im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie hat der Bund Minimalstandards festgelegt, damit die Widerstandskraft des Gesamtsystems gestärkt wird. Viele Massnahmen erfolgen in enger Zusammenarbeit mit den Branchen. Sollten Mangellagen eintreffen, folgt je nach Produkt oder Dienstleistung eine Kaskade von Massnahmen. Als Beispiel: Bei einem Treibstoffmangel würden zuerst die Treibstofflager geöffnet, verbunden mit flankierenden Massnahmen, die zum freiwilligen Energiesparen führen (zum Beispiel Aufruf zur ÖV-Nutzung oder Reduktion des Freizeitverkehrs). Steigerungen wären Temporeduktionen bis hin zu Rationierungen. Solche Entscheidungen unterstehen dem Bund.

Werden Problemstellungen auch mit Blick auf das Ausland beurteilt? Die Abhängigkeit vom Ausland ist enorm, sodass eine grenzüberschreitende Betrachtung unerlässlich ist. Unsere Lebensmittel kommen zu 40 Prozent aus dem Ausland, Energie zu 80 Prozent und Medikamente zu 70 Prozent. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung und die Wirtschaft beobachten diese Märkte stetig. Die Vorstellung eines Computervirus ist beunruhigend. Es gab KMU, die deswegen mehrere Tage lahmgelegt waren. Es gibt auch in diesem Bereich Szenarien, und die Massnahmen werden auf Praxistauglichkeit hin geprüft. Bei Angriffen im Telecom- Bereich könnte beispielsweise der Datentransfer eingeschränkt werden, die Telefonie hätte dabei Vorrang. Die Folge wären Einschränkungen bei der Übermittlung von Videodateien und Streaming-Diensten.

Wir Menschen sind abhängig. Und die Corona-Pandemie führt uns die Verletzlichkeit deutlich vor Augen. Welche Haltung soll der Mensch heute einnehmen? Wir können uns auf die wirtschaftliche Landesversorgung verlassen. Sie hat den Auftrag, die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen in Mangellagen sicherzustellen. Doch jede Person hat auch die Pflicht, zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beizutragen – zum Beispiel mit einem Notvorrat.

Peter Reichmuth: «Der Bund hat die Risiken skaliert. Aktuell stellt die Corona-Pandemie das höchste Risiko dar. An zweiter Stelle steht die Stromunterversorgung.» Foto: Franz Feldmann

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