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Wie eine Wildsau vor 100 Jahren in Einsiedeln ihr Unwesen treibt

Wie eine Wildsau vor 100 Jahren in Einsiedeln ihr Unwesen treibt Wie eine Wildsau vor 100 Jahren in Einsiedeln ihr Unwesen treibt

Am 11. November 1921 erlegt Ratsherr Emil Lienert zum Schöngarn eine Wildsau im Wyten Bödeli am Bolzberg. Sein Enkel Hans Oechslin aus Einsiedeln erinnert sich an die dramatischen Geschehnisse, die sich vor exakt hundert Jahren im Klosterdorf abspielten.

MAGNUS LEIBUNDGUT

«Eine Wildsau kam letzten Freitag, nachdem die Hunde etwas rebellisch geworden, vor das Rohr eines Jägers», berichtet der Einsiedler Anzeiger am 16. November 1921: «In etwas kitzliger Situation befand er sich in seinem unerwarteten Zusammentreffen mit dem schon so oft signalisierten Wildschwein, das in seinen langen schwarzen Haaren mehr einem Bären glich.» Im mit «Jägerglück» betitelten Artikel im EA 91/1921 heisst es weiter: «Aber ein richtiger Jägersmann forcht sich nicht. Auf zwanzig Meter Entfernung erhielt das in unserer Gegend so seltene Tier eine Schrotladung in die Lunge.» Vom Holzhändler zum Bezirksammann Der glückliche Erleger der Wildsau ist Herr Ratsherr Emil Lienert zum Schöngarn. Neunzig Jahre seien verflossen, seitdem im Hochtal Wildschweine erlegt worden seien, schreibt der Einsiedler Anzeiger: «Und da dies Ereignis wieder eintraf, war es ein glücklicher Gedanke, zuerst der Schuljugend es kundzugeben, und welch ein Hallo es bei ihr erzeugte, braucht der Berichterstatter nicht zu erwähnen.» Und wie ist es dem Wildschwein wohl weiter ergangen? «Wie man vernimmt, sei gestern Montag das Getier nach Zürich spediert worden, wo es als Delikatessen serviert werden wird», teilt der EA mit.

Emil Lienert (1880 bis 1952) heisst also der glückliche Schütze, der vor hundert Jahren im Wyten Bödeli am Bolzberg ins Schwarze getroffen hatte. Den Einsiedler Zeitgenossen war der damals 41-jährige Holzhändler wohlbekannt: Er war Ratsherr und wurde schliesslich im Jahr 1935 zum Bezirksammann gewählt. Hans Thorner, auch er ein Holzhändler, hat Emil Lienert damals auf der Jagd begleitet und ihm geholfen, die 75 Kilogramm schwere Bache abzutransportieren.

Hin und wieder hat die Wildsau einen Zahn verloren Unterdessen hängt der ausgestopfte Kopf des Wildschweins im Haus von Hans Oechslin in Einsiedeln: Vor hundert Jahren hat ein Zürcher Tierpräparator das Tier ausgestopft. Im letzten Jahr wurde der Kopf bei einem Tierpräparator aus Giswil saniert: «Nach hundert Jahren war eine Sanierung nötig», erzählt der Enkel des glücklichen Jagdschützen Emil Lienert: «Der Sau ist der eine oder andere Zahn ausgefallen, und ihr Fell hat viel Staub angesetzt.» Hans Oechslin ist im Kaffeehaus Dreiherzen im Klosterdorf aufgewachsen: Und ebendort ist die Wildsau an der Wand gehangen. «Ich habe viele Erinnerungen an das Wildschwein. Und so lag es mir am Herzen, dass ich das Tier in unser neues Haus mitnehmen konnte», schildert der 66-jährige Einsiedler: «Wir haben als Kinder viel gespielt mit dem Wildschwein: Eine Mutprobe bestand darin, eine Hand in das Maul der Sau zu strecken.» Offensichtlich ist das Wildschwein ein freundliches Wesen gewesen: Jedenfalls hat das Tier niemals zugeschnappt in des Buben Hand. Hans Oechslin ist kein Jäger, kocht aber gerne Wild Das Jägeren des Grossvaters ist jedenfalls nicht auf seinen Enkel übergegangen: Hans Oechslin ist kein Jäger. Nichtsdestotrotz hat er eine Affinität zum Wild: Der Nachfahre von Emil Lienert kocht gut und gerne Wild. Hin und wieder kann Oechslin einem Jäger ein ganzes Reh abkaufen. Dann gibt es ein Festessen für die ganze Familie.

«Selber ein Wildschwein zu schiessen, kommt für mich nicht in Frage. Eine Wildsau zu verspeisen hingegen schon: Sie schmeckt schliesslich vorzüglich », sagt Oechslin.

Wildschweine haben eine Vorliebe für saftigen Mais

Aus erster Hand weiss der Enkel wenig über die Umstände der damaligen Jagd auf das Wildschwein: Hans Oechslin ist nach dem Tod seines Grossvaters geboren worden. Anzunehmen sei, dass das Wildschwein aus dem Raum Rothenthurm in Richtung Einsiedeln unterwegs gewesen sei, als es vor das Gewehr des Grossvaters geraten ist.

Der Klimawandel treibt die Zahl der Wildschweine im Unterland in die Höhe, weil mehr Mais und Nüssli auf den Speiseteller der Tiere gelangen. Wildschweine sind zwar Allesfresser, haben aber eine grosse Vorliebe für saftigen Mais. Und da auf einer Höhenlage von Einsiedeln kein Mais gedeiht, ist kaum davon auszugehen, dass Wildschweine im Klosterdorf zum Problem werden könnten.

So weit wie in Berlin sind wir in Einsiedeln noch nicht: In der deutschen Millionenstadt streifen in der Nacht ganze Rotten von Wildschweinen durch die Strassen. Auch in Rom gehören die Tiere mittlerweile zum Stadtleben, ebenso in Wien und Barcelona.

Wie zwei Wildsauen bei der Egger Badi auftauchten Aber aufgepasst: Das Wildschwein ist auch in Einsiedeln in dieser Zeit bereits wieder aufgetaucht. «Meine Frau hat vor etwa fünf Jahren beim Spazieren in einem Wäldli nahe bei der Egger Badi zwei Wildschweine gesichtet », führt Oechslin aus. Sie sind also da – nach hundert Jahren!

Der pensionierte Versicherungsfachmann nimmt an, dass die Wildsau von der March her in den Bezirk Einsiedeln eingedrungen ist. Schliesslich ist das Linthgebiet bekannt für Maisanbau: Bauern können dort ein Lied davon singen, wie Wildschweine ihre Äcker durchfurchen.

Allerdings will Hans Oechslin den Ball flach halten und keinesfalls Angst und Schrecken verbreiten: «Bei der Wildsau, die meine Frau entdeckt hat, dürfte es sich um einen Einzelfall, ein verirrtes Tier, handeln.» Denn die Autobahn A3 bedeute für die Wildschweine ein nur schwer zu querendes Hindernis, einen Riegel par excellence.

Wenn auch der Enkel bezüglich der Jägerei kaum in die Stapfen seines Grossvaters tritt, teilt er mit diesem doch die Leidenschaft für Holz, Wald und Wild. Und er ist nicht der einzige aus der Dynastie Lienert: Auffällig viele Verwandte von Hans Oechslin sind Förster geworden.

Wie der Luchs zurück in die Schweiz gekommen ist

Einer der vielen Förster der Familie war Leo Lienert (Sohn von Emil Lienert), ehemaliger Oberförster im Kanton Obwalden. Er ist in die Geschichtsbücher eingegangen: Vor 47 Jahren setzt Leo Lienert zwei Luchse aus und bringt die ausgestorbene Grosskatze damit in die Schweiz zurück. Die Pioniertat trägt ihm die erbitterte Feindschaft der Jäger ein.

Unterdessen sind Luchs und Wolf auch im Raum Einsiedeln in den Wäldern anzutreffen. «Vermutlich freuen sich die Einsiedler Jäger nicht allzu sehr über diese Raubtiere, die ihnen die Beute streitig machen», lacht Oechslin: «Die Förster hingegen sind nicht unfroh, wenn dank des Wolfes weniger Wildverbiss den Baumbestand dezimieren mag.» Ob der Wolf auch ein besserer Jäger des Wildschweines wäre als die Jäger selber, darüber kann Hans Oechslin nur mutmassen: «Was ich weiss, ist, dass mein Grossvater ganz ins Schwarze getroffen und das Wildschein vor hundert Jahren im Nu erlegt hat.»

Der Ratsherr Emil Lienert (links im Bild) erlegt am 11. November 1921 am Bolzberg in Einsiedeln ein Wildschwein. Mit dabei ist damals sein Jagdkollege Hans Thorner.

Foto: zvg

Am 15. November 1921 wurde «das Getier nach Zürich spediert, wo es als Delikatesse serviert und verspeist worden ist». Foto: zvg

Von Rothenthurm herkommend sucht die 75 Kilogramm schwere Bache den Bezirk Einsiedeln heim.

Fotos: Magnus Leibundgut

Der 66-jährige Hans Oechslin ist ein Enkel von Emil Lienert.

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