Veröffentlicht am

«Jetzt muss ich das Erlebte nicht mehr alleine tragen»

«Jetzt muss ich das Erlebte nicht mehr alleine tragen» «Jetzt muss ich das Erlebte nicht mehr alleine tragen»

Gisela Föllmi, Einsiedeln, wurde als Kind missbraucht. Nun fasst sie das Unsagbare in einem Buch in Worte. Heute Freitag findet die Buchvernissage um 19 Uhr im Bistro Tulipan beim Klosterplatz statt.

SILVIA CAMENZIND

Gisela Föllmi, heute 57 Jahre alt, wurde in ihrer Kindheit schwer missbraucht. Sie war sieben Jahre alt, als sie das erste Mal von ihrem Stiefvater an einen Mann verkauft wurde.

Der Stiefvater war EDV-Spezialist, der Mann sein Angestellter. Gisela musste ihr schönes Kleid anziehen, um es Minuten später wieder abzulegen. Der fremde Mann begleitete sie ins Badezimmer des Büros, wo sie sich in die Badewanne stellen und von ihm missbrauchen lassen musste. So wurde die kleine Gisela zum Lohnbestandteil. Es kamen Übergriffe von weiteren Männern dazu, auch vom Stiefvater – und das über Jahre hinweg.

Sie konnte sich nicht wehren, auch nicht gegen ihre Mutter. Um weiterleben zu können, spaltete die kleine Gisela die Erlebnisse von sich ab – verdrängte sie. Erst vor zehn Jahren begann sich Gisela Föllmi zaghaft wieder zu erinnern, und erst im vergangenen Jahr wagte sie, alles aus dem inneren «Schlimme- Dinge-Schrank» zu holen. Sie schaffte es, das Erlebte aufzuschreiben.

In Grau unterlegten Stellen beschreibt sie in ihrem Buch detailliert die schwere Gewalt, die ihr angetan wurde. Wer das nicht erträgt, sollte diese Stellen überspringen. Nun, da das Buch «Das Schweigen brechen» veröffentlicht ist, fühlt sich Gisela Föllmi, die heute mit ihrem Mann in Einsiedeln wohnt, von Tag zu Tag etwas leichter. Aber das Erlebte hat ihr Leben geprägt. Ihr Buch zeigt drastisch auf, wie sie als Kind und Jugendliche missbraucht wurde.

Können Sie heute gut schlafen?

Ich habe jede Nacht Albträume. Ich erwache fast jede Nacht mit Panikattacken. Ohne Schlafmittel kann ich fast nicht schlafen. Wie war das damals aus Kindersicht?

Als Kind kann man das nicht einschätzen. Ich kannte nichts anderes. Das Elternhaus, mein Umfeld hat mir vermittelt, das sei normal. Man hilft dem Papi, also dem Stiefvater. Da wir sehr zurückgezogen lebten, hatte ich kaum Vergleichsmöglichkeiten. Heute, als Erwachsene, kann ich das einordnen. Ein Kind kann das nicht. Um weiterexistieren zu können, haben Sie als kleine Gisela all das Schreckliche in einen «Gedanken- Schrank» weggepackt und verdrängt. War das Ihre Überlebensstrategie? Nach langer Therapie kann ich heute sagen, es braucht diesen Mechanismus, damit die Psyche die Traumatisierungen abspalten kann. Für mich war es das Bild dieses «Schlimme-Dinge- Schranks». Diesen Schrank habe ich erst im Erwachsenenalter in der Therapie so genannt. Ihn hat es gebraucht, sonst hätte ich nicht überleben können. Erinnert man sich immer an alles, was einem widerfahren ist, geht man zugrunde. Als Kind wurde Ihnen ständig Schuld aufgeladen. Die Eltern sagten: «Du bist schuld. Wegen dir müssen wir das jetzt machen. » Hätten Sie sich damals wehren können?

Nein, da kommt man nicht raus. Noch heute begleiten mich täglich Schuldgefühle. Pralle ich heute aus irgendeinem Grund wegen einer Kleinigkeit mit jemandem zusammen, suche ich die Schuld immer bei mir. Für mich war immer klar, dass ich schuld war. Die Mutter war ebenfalls Täterin. Sie brachte Sie zu den Männertreffen, wusste, dass Sie vom Stiefvater missbraucht wurden, und tat viel Schreckliches mehr. Konnten Sie als Kind nicht erkennen, dass das komplett falsch ist?

Um das zu erkennen, brauchte ich Jahrzehnte. Ich habe meiner Mutter bis weit ins Erwachsenenalter gefühlsmässig immer Respekt entgegengebracht. Als Kind ist die Bindung zu den Eltern überlebenswichtig. Was immer sie machen, für das Kind stehen sie auf einem Podest. Ein Kind hat keinen Vergleich. Es kann nicht alleine existieren. Die Mutter liess Sie ohne Ihr Wissen mit 14 Jahren sterilisieren. Niemand sprach mit Ihnen darüber. Wie konnte ein Arzt so etwas tun?

Das kann ich mir nicht erklären, denn Ärzte leisten den hippokratischen Eid zum Wohle kranker Menschen. Eine Sterilisation bei einem gesunden Mädchen und ohne dessen Wissen ist eine schwere Verletzung dieses Eides und eine Straftat. Ich mutmasse, dass sich die entsprechenden Kreise damals finden liessen. Aber ich betone, es ist eine Mutmassung.

Im Buch erfährt man von Ihrem Kampf, das alles aufzuarbeiten und niederzuschreiben. Wie schwer war es? Jeder Text, der im Buch steht, ist ein Wiedereintauchen in die Erinnerung mit allen Sinnen. Man spürt, man riecht, man fühlt alles. Es kostete viel Kraft, schlaflose Nächte und zudem 15 Kilogramm Gewichtsverlust in einem halben Jahr. Es war kräftezehrend.

Jetzt, da das Buch vorliegt, wie fühlen Sie sich? Gut. Es ist eine grosse Last weg. Ich muss das Erlebte nicht mehr alleine tragen. Mein inneres Bild geht so: Indem ich das, was mir widerfahren ist, nach aussen tragen kann, wird es auf viele Schultern verteilt. Das war das Bild, das mich antrieb, weiterzumachen, immer in der Hoffnung, dass die Last weniger wird. Als man mir mitteilte, das Buch sei im Druck, fielen mir drei Tonnen Last von den Schultern. Ihr Mann hat Ihre Krisen – dazu gehören zwei Selbstmordversuche – ausgehalten. Hätten Sie es ohne ihn geschafft? Ohne meinen Mann würde ich nicht mehr leben. Ich hätte auch den Erinnerungsprozess im letzten Jahr ohne seine grosse Unterstützung nicht machen können. Ich kann mir nur ganz wenige Menschen vorstellen, die das aushalten. Es war nicht einfach, vor allem, weil wir über Jahre gar nicht wussten, was mich derart schwer belastete. Sie waren acht Jahre lang Vormundschaftspräsidentin in Reichenburg. Hatten Sie damals realisiert, dass auch Sie Opfer waren, oder steckten die Erinnerungen damals noch verschlossen in Ihrem «Schlimme- Dinge-Schrank»?

Das alles war noch im Schrank. Angefragt wurde mein Mann. Er sagte, er wolle nicht in die Politik, doch vielleicht seine Frau. Es standen zwei Ämter zur Wahl. Ich wollte nichts anderes als die Vormundschaftsbehörde. Aus damaliger Sicht wusste ich gar nicht, wieso, war aber am richtigen Ort.

Was raten Sie von Missbrauch Betroffenen?

Sprechen Sie! Egal mit wem. Man muss nicht, wie ich, in die Öffentlichkeit gehen. Jede und jeder soll seinen Weg finden. Nach einem Missbrauch alles mit sich selber ausmachen zu wollen, macht einen kaputt. Wie kann man Kindern sagen, sie sollen darüber sprechen? Kinder sprechen auf irgendeine Art. Doch die Aufmerksamkeit und das «Gspüri» fehlen. Zudem will man so etwas nicht wahrhaben. Eher denkt man, das kann doch nicht sein, dieser Vater ist doch so liebenswürdig. Es gibt immer Tausend Gründe, um nicht hinzuhören, was die Kinder erzählen. Deshalb hören sie irgendwann auf zu sprechen. Kindsmissbrauch ist ein schwerer Vorwurf, sollte er nicht stimmen. Was raten Sie dem Umfeld bei Verdacht? Wir haben eine Kesb, wir haben die Polizei, bei einem Offizialdelikt müssen sie handeln. Sollte der Vorwurf nicht stimmen, bleibt dennoch etwas hängen. Diesen Makel wird ein Mensch nicht mehr los. Ich rate, zu einer Opferberatungsstelle zu gehen und über den Verdacht zu sprechen. Leute, die ein Bauchgefühl haben, sollen sich bei einer solchen Stelle beraten lassen.

Erleben Sie trotz dieser schlimmen Kindheit auch Glücksmomente?

Absolut. Schaue ich aus dem Fenster, freue ich mich über die Rinder auf der Wiese. Ich trage noch immer jeden Regenwurm übers Trottoir. Ich freue mich, wenn jemand am Tisch mir ein Kompliment fürs Essen macht. Ich liebe das Kochen. Glücksmomente werden immer mehr, weil alles leichter wird. Ich habe in meinem Innern nun Platz erhalten, um mich zu freuen. Seit der Veröffentlichung des Buches gewinne ich jeden Tag mehr Gelassenheit.

«Das Schweigen brechen» von Gisela Föllmi ist im Wörterseh-Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.

Gisela Föllmi lebt heute in Einsiedeln. Foto: Silvia Camenzind

Share
LATEST NEWS