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«Der Pandemie-Zwischenfall ändert nichts am 100-Jahre-Ziel»

«Der Pandemie-Zwischenfall ändert nichts am 100-Jahre-Ziel» «Der Pandemie-Zwischenfall ändert nichts am 100-Jahre-Ziel»

Die aufstrebende Weltmacht China sorgt im Westen für eine Mischung aus Angst und Bewunderung. Der China-Experte Harro von Senger nahm anlässlich eines Südtirol-Besuchs Stellung dazu.

CHRISTOPH HÖLLRIGL*

Wie blicken Sie als China-Experte auf die vergangenen eineinhalb «Corona-Jahre» im Reich der Mitte: Was hat die Pandemie mit China gemacht? Zunächst einmal hat China drastische Massnahmen ergriffen, die dazugeführt zu haben scheinen, dass das Leben wieder einigermassen normal abläuft. Es mag sein, dass diese Massnahmen bei manchen Leuten negative Gefühle hervorgerufen haben. Aber gesamthaft gesehen scheint mir das Land wieder einigermassen so zu funktionieren, wie vorher. China hat das, zumindest teilweise, selbstbewusster gemacht. Das Coronavirus wurde erstmals in Wuhan (China) nachgewiesen. Inwiefern hat das Einfluss auf das Renommee Chinas im Westen genommen? Das Renommee hat sicher gelitten, denn es gibt ja die Theorien, dass das Virus extra von China erschaffen wurde, und viele Leute mögen das auch glauben. Das hat dem Ruf Chinas bei uns im Westen sicher nicht genützt. Bei Kritik an China sagen Chinesen: Das sind Behauptungen, falsche Gerüchte, die westliche Kreise ausstreuen, um uns schlechtzumachen. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die langfristige Wirtschaftsplanung Chinas, die sich am Konzept der so genannten «Supraplanung» orientiert? Die «Supraplanung» ist eine Planung mit einem viel längeren Zeithorizont als bei uns die strategische Planung. So hat beispielsweise 1985 der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei gesagt, China hoffe, bis zur Mitte des kommenden Jahrhunderts die höchstentwickelten, kapitalistischen Staaten wirtschaftlich einzuholen. Seither hat man alles unternommen, um diese Hoffnung umzusetzen.Dieses Ziel wurde dann als 100-Jahre-Ziel ab der Gründung der Volksrepublik 1949 definiert. So ein Zwischenfall wie die Pandemie ändert am 100-Jahre-Ziel nichts. Denn die hat ja auch keinen dauerhaften Stillstand der Wirtschaftsentwicklung mit sich gebracht. Es gibt aber immer wieder Rückschläge – wie letzthin den Quasi-Bankrott des Immobiliengiganten Evergrande, globale Lieferketten-Probleme oder den Mangel an Mikrochips. Was bedeutet das für die «Supraplanung »?

Es hat immer wieder Probleme gegeben, denken Sie an den 4. Juni 1989 (Anmerkung der Redaktion: Tiananmen-Tragödie), als mitten in China geschossen wurde. So grosse Probleme wie damals sehe ich im Moment nicht.

Aber welche Probleme es auch immer gibt: Das ändert an dieser Planung nichts. Die Chinesen wollten bis 2021 die Armut beseitigen und sie behaupten, das sei gelungen. Und sie sind auf dem besten Wege, die höchstentwickelten, kapitalistischen Länder in wirtschaftlicher Hinsicht einzuholen – was im Übrigen ja weit herum beklagt wird. Es tritt offenbar ein, was der Generalsekretär 1985 als Hoffnung zum Ausdruck gebracht hat.

Die Klimakrise und die ökologische Transformation haben letzthin im Westen eine sehr bedeutende Rolle eingenommen. Wie geht China damit um? Das Umweltthema spielt in China eine ganz grosse Rolle. Denn », der in der Satzung der kommunistischen Partei Chinas festgelegt ist, ist der Widerspruch in der chinesischen Gesellschaft «zwischen den wachsenden Bedürfnissen des Volkes nach einem schönen und guten Leben und der unausgewogenen und ungenügenden Entwicklung». Das tönt jetzt sehr naiv, märchenhaft und unwichtig. Aber zum «schönen und guten Leben» gehört natürlich eine gesunde Umwelt.

Der vorherige «Hauptwiderspruch », der bis 2017 verfolgt wurde, war der Widerspruch «zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion ». Sie sehen: Materiell steht an erster, kulturell an zweiter Stelle. Die «materiellen Bedürfnisse des Volkes» sah man als befriedigt, wenn es jedes Jahr zweistellige Wirtschaftswachstumszahlen gab. Reine Luft, gesundes Essen, eine saubere Umwelt waren kein materielles Bedürfnis aus Sicht der Führenden. Das ist jetzt unter dem neuen «Hauptwiderspruch» anders. Wie bewerten Sie die geopolitischen Machtdemonstrationen Chinas – etwa auch beim derzeitigen Konflikt um Taiwan, bei dem sich Staatspräsident Xi Jinping deutlich für einen Anschluss an China ausgesprochen hat? Dazu muss ich nochmals kurz das Konzept der «Supraplanung» erläutern. Ein Aspekt ist der lange Planungshorizont. Ein anderer Aspekt ist eine Kombination von konventionellen – also etwa auch militärischen – und unkonventionellen – also listigen – Massnahmen zur Erreichung der Ziele. Staatschef Xi Jinping hat zum Thema Taiwan betont, dass er eine friedliche Wiedervereinigung erreichen möchte. Im Westen haben sich alle auf den militärischen Aspekt konzentriert, auf das Wort «friedlich» hingegen niemand. Da sind wir jetzt aber bei der «Supraplanung» und dem Erreichen eines Zieles durch den Einsatz von List. So hat man etwa taiwanesischen Geschäftsleuten seit den 1980er-Jahren unglaublich gute Bedingungen geboten, in der Volksrepublik Geschäfte zu machen. So ist es gelungen, wesentliche Teile der taiwanesischen Wirtschaft auf das Festland zu locken. Diese Geschäftsleute sind jetzt natürlich nicht Befürworter eines unabhängigen Taiwans und eines scharfen Bruchs mit der Volksrepublik.

Ich würde bei diesemThema also die supraplanerische Sichtweise ins Auge fassen und nicht immer nur von der militärischen Bedrohung reden. Die Sorge des Westens vor einem Militärschlag ist also unbegründet?

In der Satzung der kommunistischen Partei Chinas steht, dass der Wirtschaftsaufbau als Mittelpunkt zu betrachten ist. Alles andere muss untergeordnet sein. Wir haben es hier mit einem marxistisch-leninistischen Staat zu tun. Da gilt nach Bertold Brecht: Erst das Fressen, dann die Moral. Was Chinesen interessiert, ist der Wirtschaftsaufbau, nicht die Geopolitik. Was vielen Beobachtern als chinesische Geopolitik erscheint, ist aus meiner Sicht innenpolitische Wirtschaftspolitik.

So will China durch das Seidenstrassenprojekt eine blühende Wirtschaft erreichen. Damit gewinnen sie neue Export- und Absatzmärkte. Und was ist mit den Menschenrechtsverletzungen?

Es gibt zwei UN-Menschenrechtspakete von 1966: Einen internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, also mit Meinungs- und Religionsfreiheit, über die wir im Westen reden. Dann gibt es aber einen zweiten Pakt, der heisst Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dieser ist aber bei uns völlig unbekannt. In diesem zweiten Pakt (Anmerkung der Redaktion: auch UN-Sozialpakt genannt) steht, dass jeder Mensch Anrecht hat auf einen angemessenen Lebensstandard, auf Nahrung, auf Gesundheitsvorsorge und so weiter.

Das Seidenstrassenprojekt kann man so gesehen als gigantisches, globales Menschenrechtsprojekt betrachten. Wir Europäer lassen ständig Leute im Mittelmeer ertrinken und betreiben an den Aussengrenzen Push-Back. Ist das menschlich? Mit China über die politischen Menschenrechte zu diskutieren, führt zu nichts. Da findet man keine Gemeinsamkeit. Man sollte sich hingegen auf die wirtschaftlichen Menschenrechte konzentrieren. Woran sollte Europa Ihrer Meinung nach arbeiten, um neben China wirtschaftlich und politisch zu bestehen? Abnabelungen von den USA, denn die USA haben, als einer von wenigen Staaten der Welt, den Pakt über die wirtschaftlichen Menschenrechte nicht ratifiziert. Die Amerikaner sollen ruhig über die politischen Menschenrechte mit China diskutieren. Aber wir sollten uns auf die wirtschaftlichen Menschenrechte konzentrieren. Denn sowohl China wie auch alle EU-Staaten und die Schweiz haben den Sozialpakt ratifiziert. Hier finden wir eine gemeinsame Basis. Wir sollten also China etwa in Afrika unterstützen und schauen, dass die Wirtschaft dort wirklich in Schwung kommt.

Unser Profit wäre die Verringerung der ständigen Immigration und des ständigen Push-Backs an den EU-Grenzen sowie der Toten im Mittelmeer. Und wirtschaftlich den Standard zu halten, den wir haben. Denn wo ist der grosse europäische Plan der Ursachenbehebung? Politiker reden immer nur davon und sagen: Das müsste man tun. Chinesen haben diesen grossen Plan.

Da kann man doch Trittbrettfahrer sein und versuchen, auch noch ein bisschen mitzureden und mitzuprofitieren.

Dr. Christoph Höllrigl ist Redakteur der Zeitung «Zett», einer Sonntagszeitung in Südtirol (www.zett. it). Das Interview in der «Zett» erschien am 24. Oktober. Mit freundlicher Genehmigung der «Zett»-Redaktion kann es auch im Einsiedler Anzeiger publiziert werden.

Professor i.R. Harro von Senger: «Ich frage zurück: Ist das menschlich, was Europa macht?» Foto: Christoph Höllrigl

«Gesamthaft gesehen scheint mir das Land wieder einigermassen so zu funktionieren wie vorher. China hat das selbstbewusster gemacht.»

der neueste sogenannte «Hauptwiderspruch

«Reine Luft, gesundes Essen, eine saubere Umwelt waren kein materielles Bedürfnis aus Sicht der Führenden. Das ist jetzt unter dem neuenHauptwiderspruch› anders.»

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