Veröffentlicht am

«Während in vielen Teilen der Welt die Medikamente fehlen …»

«Während in vielen Teilen der Welt  die Medikamente fehlen …» «Während in vielen Teilen der Welt  die Medikamente fehlen …»

Der Hausarzt Antoine Chaix befürwortet das Impfen der Risikopatienten. Einen Impfzwang, selbst einen indirekten, lehnt er jedoch ab.

ANTOINE CHAIX

In einer sonst sehr kritischen linken Zeitung wurde Anfang Juli über die vielen Menschen, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Impfstrategie haben, pauschal von «ideologisch Verblendeten » geredet. Dies in einer Zeitung, die sonst sehr darauf bedacht ist, Minderheiten oder Andersdenkende ja nicht in eine negativ behaftete Schublade zu stecken … Ich selber bin geimpft, aber kritisch und in keiner Weise ideologisch verblendet. Man könnte fast den Umkehrschluss wagen, dass die so absolut kritikarme Übernahme einer staatlichen Strategie einer ebenso gefährlichen Verblendung nahe kommt. Diesen Umkehrschluss versuche ich nun aber von mir zu weisen, bringt uns doch die leider schon viel zu ausgeprägte Polarisierung nicht weiter.

Der 40-Prozent-Neinanteil ist viel bemerkenswerter Dass es sich bei der Gruppe der impfkritischen Menschen nicht um eine abgehobene Minderheit handelt, hätte man schon vor einem Monat vermuten können. In der Schweiz hatte die Bevölkerung nämlich die fast einmalige Möglichkeit, sich in einer Abstimmung, wenn nicht direkt, so doch indirekt, zur Strategie der Pandemiebewältigung zu äussern, so wie dies am 13. Juni bei der Abstimmung über das Covid-Gesetz der Fall war. Zwar gelten Abstimmungsresultate für «normale » Abstimmungen mit einem Ja-Anteil von knapp 60 Prozent als deutlich. In diesem speziellen Fall ist aber der Nein-Anteil mit fast 40 Prozent viel bemerkenswerter. Dies lässt im Hinblick auf eine Impfstrategie aufhorchen, die erst mit einer angepeilten Durchimmunisierung von über 75 Prozent überhaupt voll zum Tragen käme. Gerade im Hinblick auf den doch hohen Nein-Anteil überrascht es nicht sonderlich, dass die Durchimmunisierung bei einem viel tieferen Plateau ins Stocken kommt.

Wenn man die Zeichen einer solchen Abstimmung richtig interpretieren würde, dann könnte man voraussagen, dass beim aktiven Schritt einer Impfung viele nicht überzeugt sind. Damit ist eine Strategie, die diese Überzeugung voraussetzen würde, von Anfang an als nicht realistisch und somit als schlecht einzustufen.

Den Faktor Mensch nicht ausklammern Wie viele der Massnahmen, die während der Pandemie ausgedacht und umgesetzt wurden, könnte auch diese in einer wissenschaftlich sterilen Welt vielleicht in sich kohärent sein. In der Umsetzung scheitern sie aber, da der wichtigste und gleichzeitig komplexeste Faktor zu wenig berücksichtigt wird: der Faktor Mensch.

Der denkende, aber auch irrationale, der kritische, hinterfragende, aber auch unberechenbare, der widerspenstige, aufmüpfige, aber auch leidenschaftliche Mensch. Dieser lässt sich – zum Glück – nicht in ein Schema zwängen. Umso mehr, wenn das Schema einseitig, teilweise nicht nachvollziehbar und in gewissen Bereichen sogar widersprüchlich ist.

Trotzdem wird unerschrocken an dieser Impfstrategie festgehalten. Wegen der zögerlichen Fortschritte wird diese nicht hinterfragt, sondern lediglich der Druck, sie durchzusetzen, erhöht. Dabei wird von «Überzeugungsarbeit » geredet, das einzig wirklich wirksame Mittel, insbesondere die Jungen dazu zu bewegen, ist aber gleichzeitig das zweifelhafteste, das Covid-Zertifikat. Dieses bringt junge Menschen dazu, eine invasive therapeutische Massnahme über sich ergehen zu lassen, von denen viele nicht aufgrund ihrer medizinischen oder epidemiologischen Wirksamkeit überzeugt sind, sondern nur um sich den Zugang zu einem etwas normaleren Leben zu erkaufen. Sorgsam und gezielt einsetzen

Dabei hätte man mit der Impfung aktuell tatsächlich ein sehr gutes Werkzeug, um die grössten Herausforderungen der Epidemie gezielt anzugehen: Die Sterblichkeit und das Vermeiden von schweren Fällen und damit das Vermeiden der Überforderung eines kleinen, aber wichtigen Teils des Gesundheitssystems. Dass die fragliche sogenannte dritte Welle durch die Impfung abgefangen worden sei, mag nur in dem Aspekt stimmen, dass die Hochrisikopatienten (insbesondere in den Alters- und Pflegeheimen) zu dieser Zeit bereits eine recht gute Durchimpfung hatten. Sicher aber nicht durch die angepeilte Herdenimmunität.

Trotz der momentanen Wirksamkeit dieses neuen therapeutischen Instrumentes soll es aber wie alle neuen Medikamente und Impfungen sorgsam und gezielt eingesetzt werden, ehe man diese wirklich gut kennt. Zwar sind durch die immensen Impfzahlen die kurzfristigen, nicht immer ganz so harmlosen Nebenwirkungen mehrheitlich bekannt. Trotzdem liegt es in der Natur eines neuen Mittels, dass die Langzeiteffekte schlicht nicht bekannt sein können.

Ich bin guter Hoffnung, dass mit dieser neuen Technologie tatsächlich ein grosser Fortschritt in der Impftechnologie erzielt werden kann. Genau wissen werden wir es aber definitiv erst viel später. Und bis dann sollen wir sie gezielt breit therapeutisch, aber nicht im aktuell angestrebten globalen Stil anwenden. Umso mehr, als auch das Verhalten des Virus und dessen Mutationen unberechenbar sind und somit in Zukunft voraussichtlich laufend Anpassungen nötig sein werden. Ein «fast perverses Privileg»

Die Vorstellung, die Pandemie mit der Impfung «schnell zu beenden », wie es im besagten Artikel stand, ist von erschütternder Naivität. Erstens weil die angepeilte Durchimmunisierung wie erwähnt kaum realistisch ist und vor allem aber, weil es nur eine Frage der Zeit ist, bis in unserer globalisierten Welt aus anderen Regionen der Welt neue Mutationen eingeschleppt werden, sei es Lambda, Gamma oder Omega… Verzögern können wir diese Entwicklung mit immensem Aufwand vielleicht, verhindern nicht. Zu viele Gegenden der Welt werden immer ein Reservoir oder Ursprungsort neuer Varianten darstellen, da die Ressourcen für die in unserer privilegierten Welt angepeilte, aber illusorische Ausrottung des Virus schlicht fehlen.

Denn «Sich impfen zu lassen ist ein ungeheures Privileg», stand im gleichen Artikel der erwähnten Zeitung. Dies stimmt insofern, dass sich ganz viele Länder diese tatsächlich nicht leisten können. Wenn aber diese Tatsache schon ins Feld geführt wird, dann soll sie konsequent zu Ende gedacht werden. Überhaupt so unvorstellbare Mittel im Kampf gegen eine Erkrankung, die doch mehrheitlich ältere Menschen am stärksten trifft, in die Hand zu nehmen, ist in einer globalen Betrachtungsweise ein fast schon perverses Privileg.

Dies wenn man bedenkt, dass in vielen Teilen der Welt die Mittel fehlen, um weit einfacher zu behandelnde, teilweise ebenso tödliche Erkrankungen oder Zustände wie Mangelernährung oder schwere Durchfallerkrankungen zu bekämpfen. Von den chronischen und komplexen Herausforderungen wie Malaria oder Tuberkulose gar nicht zu sprechen, ebenso wenig wie von Covid selber. Da ist die Impfung lediglich ein Supplément, das, wenn schon, auch weltweit gerechter für die Risikopatienten verteilt werden sollte, anstatt sie als Teil einer äusserst fraglichen Strategie bei jungen, nicht direkt gefährdeten Menschen anzuwenden.

Ein «normaleres Leben» Zusammenfassend kann ich also die Seniorinnen und Senioren sowie die Risikopatienten nur ermuntern, sich impfen zu lassen. Einerseits für den eigenen Schutz, andererseits, um das vorrangige Ziel zu erreichen, die Überforderung der Nadelöhre im Gesundheitssystem zu vermeiden. Damit könnte die von den Jüngeren während anderthalb Jahren abverlangte und viel heraufbeschworene Solidarität «zurückbezahlt» und eine Rückkehr in ein normaleres Leben trotz vierter, fünfter oder sechster Welle ermöglicht werden. Und dies, ohne dass eine höchst zweifelhafte Impfstrategie weiter auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden müsste.

Dr. med. Antoine Chaix ist praktizierender Hausarzt (unter anderem in Einsiedeln) und seit 2016 SP-Kantonsrat. Er äussert sich wiederholt dezidiert zum Umgang mit dem Coronavirus (zum Beispiel in EA 7/21). Die Meinung des Autors muss sich nicht mit jener der Redaktion decken.

«Wegen der zögerlichen Fortschritte wird die Strategie nicht hinterfragt, sondern lediglich der Druck erhöht, sie durchzusetzen.»

«Wenn schon, dann weltweit gerechter für die Risikopatienten verteilen »: Antoine Chaix zum Corona-Impfstoff.

Foto: Archiv EA

Share
LATEST NEWS