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«Auf meinen Beinen bleiben»

«Auf meinen Beinen bleiben» «Auf meinen Beinen bleiben»

Seit über 40 Jahren lebt Annemarie Kälin mit Multipler Sklerose (MS) – am Sonntag ist Welt-MS-Tag

Strukturen, Ziele, Aufgaben, die Familie und vor allem ihre Spielgruppen, die sie mit Liebe und Leidenschaft führt, verbunden mit ihrer vorbildlichen positiven Einstellung, sind alles Gründe, dass die Eggerin Annemarie Kälin trotz MS ein zufriedenes und erfülltes Leben führt.

MARLIES MATHIS

«Ich gebe der Krankheit keinen Platz», ist für die 64-jährige Annemarie Kälin ein Satz im positiven Sinn, mit dem sie nur gute Erfahrungen in ihrem Leben gemacht hat. Was nicht heisst, dass die Eggerin, welche seit über 40 Jahren an Multipler Sklerose leidet, die Auswirkungen und Schmerzen nicht spürt und sich mit ihnen zu arrangieren hat. Sie lässt sich jedoch nicht davon beherrschen, auch wenn sie sich den krankheitsbedingten Herausforderungen täglich stellen muss, dank ihrer Aufgaben aber gar keine Zeit hat, der MS Priorität einzuräumen. Sie betont jedoch gleichzeitig, dass das ihr persönlicher Weg sei und wohl jeder MS-Kranke seinen eigenen finden müsse.

Ein entsprechendes Beispiel gibt es gleich beim Treffen zum Interview. Obwohl Annemarie Kälin die Möglichkeit hat, den Lift zu benutzen, bewältigt sie die Treppen in den ersten Stock zu Fuss, was zwar anstrengend, aber ein ideales Training ist. Ausserdem ist sie zuvor in der Therapie im Spital Einsiedeln gewesen, einen Drittel davon bei der Physiotherapeutin und eine Stunde selbstständig an den Geräten und dies seit Jahren jede Woche zweimal. Auch wenn das beileibe nicht ihre Lieblingsbeschäftigung sei, halte sie sich aber konsequent daran. «Ich werfe jedes Mal Geld für eineinhalb Stunden in die Parkuhr und dann wird so lange trainiert », erzählt sie lachend. Und meint weiter: «Ich ha en härte Grind, wohl vo mim Vatter, und en Wille wie en Stier!» Übrigens zum Glück auch Knochen aus Eisen, wie sie ergänzt, sei sie doch schon so oft wegen des fehlenden Gleichgewichts gestürzt, habe sich aber noch nie etwas gebrochen.

Die Spielgruppe – ihr Lebenselixier Was die aktive Frau geradezu ins Schwärmen bringt, sind ihre vier Spielgruppen, die sie wöchentlich je zur Hälfte in Einsiedeln und in Egg leitet. Da kann sie ihre Liebe zu Kindern ausleben, sich mit viel Freude intensiv auf diese Halbtage vorbereiten und mit Begeisterung basteln, spielen und sich den Dreikäsehochs widmen. Gleichzeitig sei das die beste Therapie, müsse sie sich doch ständig bewegen, Rucksäcke hochheben, Flaschen öffnen, Schuhe anziehen, beim Basteln helfen und vieles mehr.

Wohl nicht umsonst hat sie den Beruf der Kinderkrankenschwester gelernt, diesen dann auch elf Jahre lang im Spital Einsiedeln ausgeübt und später noch die Ausbildung zur diplomierten Spielgruppenleiterin absolviert. «Ich habe ein Leben lang Kinder gehütet», erzählt sie strahlend.

Umso grösser war der Schock, als sie mit gut 23 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose erhielt. Nachdem schon seit Längerem ihr linkes Bein oft einfach eingesackt war und sie im Sommer plötzlich links nichts mehr sah, wurde sie vom Augenarzt sofort zu gründlichen Untersuchen überwiesen und dann mit dieser Tatsache konfrontiert. Sofort kam ihr ein ehemaliger Lehrer in den Sinn, der schon während ihrer Schulzeit an einer aggressiven MS litt und den sie später, nebst anderen MS-Patienten aus der Region, im Spital pflegte und der in jungen Jahren starb. Schlimmer war für Annemarie Kälin aber die Nachricht des Arztes, dass sie keine Kinder bekommen sollte.

Trotz Diagnose glückliche Mutter Mit Hilfe von Cortison erholte sich ihr Auge relativ schnell, und sie arbeitete weiter 100 Prozent in ihrem Beruf. Sie habe sich schon in dieser Zeit nicht zu stark mit der MS auseinandergesetzt, sinniert sie rückblickend, sondern habe einfach vorwärtsgeschaut und bewusst das gemacht, was ihr gut getan habe, sprich möglichst aktiv sein, Strukturen und Ziele haben, Aufgaben wahrnehmen und das tun, was ihr entspreche. So heiratete sie 1983 den Landwirt Koni Kälin, wurde vierfache glückliche Mutter und ist seit Kurzem innert zweier Tage stolze Grossmutter von zwei Enkelinnen geworden und thematisiert die Krankheit bis heute nicht gross.

Auch wenn sie immer wieder schleichende MS-Schübe hat, Medikamente ständiger Begleiter sind, sie aber auch auf Vitamin B und D setzt und auf eine ausgewogene Ernährung schaut, macht sich die aufgestellte Eggerin nicht verrückt mit Gedanken an die Zukunft. Sie müsse zwar halbjährlich zur ärztlichen Kontrolle und sehe auf dem MRI immer die weissen, stetig langsam zunehmenden Kalkflecken im Gehirn und im Rückenmark, aber sie versuche weiterhin, dieser Tatsache nicht zu viel Raum zu geben.

Es beruhige sie sehr, dass sie ein rollstuhlgängiges Haus hätten, ergänzt sie ihre Erzählungen. Dies sei ihr besonders letztes Jahr bewusst geworden, als sie eine bis heute nicht definierte Krankheit hatte, bei der sie dem Tod näher als dem Leben gewesen war und wie ein kleines Kind wieder alles lernen musste. Der Wille, wieder unabhängig zu werden und sich den Wunsch zu erfüllen, ihre geliebte Spielgruppe wieder zu führen und ihren Gabriel zu hüten, sei ihr sehr zugute gekommen. So sei auch ihr Lebensmotto «Auf meinen Beinen bleiben» wortwörtlich zu verstehen.

«Ich ha en härte Grind, wohl vo mim Vatter, und en Wille wie en Stier!»

Annemarie Kälin

Die Eggerin Annemarie Kälin ist eine aufgestellte, vorwärts schauende MS-Betroffene, die der Krankheit möglichst keinen Platz gibt, wie sie selber sagt. Fotos: Marlies Mathis

Mit Begeisterung probieren die Kinder in der Spielgruppe ihren «Hurlibueb» aus, wie Annemarie Kälin im Einsiedler Dialekt den Kreisel nennt, den sie mit den Kindern gebastelt hat.

Foto: Annemarie Kälin

Ihre Kreativität lebt die gelernte Kinderkrankenschwester beim Vorbereiten für ihre geliebten Spielgruppen, die ihr Kraft und Ablenkung geben, mit viel Einsatz und Freude aus.

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