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«Ist das Recht auf Leben nicht höher zu gewichten als die Identität?»

«Ist das Recht auf Leben nicht höher zu gewichten als die Identität?» «Ist das Recht auf Leben nicht höher zu gewichten als die Identität?»

Der Frauenarzt und Geburtshelfer Werner Förster aus dem Klosterdorf ist Mitinitiant des Babyfensters im Spital Einsiedeln: «Mit Hilfe des Babyfensters können wir eine Mutter davon abhalten, dass sie ihr neugeborenes Kind aussetzt. Sie gewinnt Zeit für eine Denkpause.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Vor 20 Jahren wurde im Spital Einsiedeln das Babyfenster eingeführt. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass es die Klappe 2021 noch immer gibt? Es gab damals im Jahr 2001 zur Eröffnung des Babyfensters eine Pressekonferenz, in der Stimmen behaupteten, da werde doch niemals ein Baby hineingelegt werden. Und jetzt sind es unterdessen bereits 14 Kinder, landesweit 24, bei insgesamt acht solchen Einrichtungen, die dank des Babyfensters im Spital Einsiedeln gerettet werden konnten. Wie sind Sie im Jahr 2001 auf die Idee gekommen, dieses Babyfenster zu initiieren? Im Jahr 1999 wurde in Willerzell am Sihlsee ein totes Baby aufgefunden. Einige Jahre vorher habe ich als Oberarzt hautnah das Drama um ein Kind miterlebt, das an einer Autobahnraststätte ausgesetzt worden war. Im Jahr 2000, in meinen Ferien, wurde von einer Touristengruppe über ein Babyfenster in Augsburg gesprochen, in das bereits ein Kind hineingelegt worden war. So ist mir die Idee für diese Einrichtung gekommen. Wieso wurde ausgerechnet Einsiedeln als Ort für die Babyklappe auserkoren? Einsiedeln ist ein sehr bekannter Ort in der Schweiz, liegt einigermassen zentral und hat gute Verkehrsverbindungen. Das Klosterdorf ist auch von der Religion her betrachtet interessant – und dies nicht nur für Katholiken, sondern auch für die Reformierten: Zwingli war ein Leutpriester und später Reformator für das helvetische Bekenntnis. Wie ist Ihre Idee im Klosterdorf angekommen? Der damalige Stiftungsratspräsident und heutige Nationalrat Alois Gmür sowie der damalige Verwalter Josef Schönbächler haben sich für diese Idee gewinnen lassen. Auch die damalige SP-Nationalrätin Josy Gyr aus Einsiedeln war dafür. Dominik Müggler, Präsident der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK), hat sich schon vor mir, wie er erzählte, damit auseinandergesetzt. So haben Ort und Zeit gestimmt, und es konnte verwirklicht werden. Wie sind die ersten Fälle über die Bühne gegangen? Das erste Baby wurde am 5. September 2002 ins Fenster gelegt. Es warf hohe Wellen und löste viele Emotionen aus. Naturgemäss waren dann vor allem die Behörden gefordert, die die Verantwortung für das Kind übernehmen mussten. Dabei ist interessant, dass fast die Hälfte der Mütter sich später meldeten, um das Kind zurückzubekommen oder ihre Identität preiszugeben. Der Kinderarzt Stephan Rupp hat für die Aufnahmemodalitäten ein exzellentes Aufnahmeschema ausgearbeitet. Welche Rolle spielte die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind bei der Installation des Babyfensters? Die Stiftung spielte nicht nur bei der Installation des Fensters eine wichtige Rolle, sondern auch bei der weiteren Organisation, Finanzierung und Wartung. Sie musste auch immer wieder Widerstände aus dem Weg räumen. So haben sich Nationalräte stark gemacht für die Abschaffung des Babyfensters, indes SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga sich für die Einrichtung ausgesprochen hat.

Teilen Sie selber die Ideologie der SHMK? In dem Sinne ja, als mir selber die christliche Gesinnung sehr am Herzen liegt und ich mich für eine christliche Wertegemeinschaft, die von allen Seiten unter Druck gerät, einsetzen möchte. Es geht beim Babyfenster aber in erster Linie gar nicht um Religion, sondern um die Freiheit der Mutter, selber alles entscheiden zu können. Eine Frau, die in höchster Not sich in die Ecke gedrängt fühlt, hat dank des Babyfensters eine Möglichkeit, sich nicht zu kriminalisieren. Es ist keine echte Alternative zur Abtreibung, höchstens eine parzielle. Seit fast drei Jahren ist kein Säugling mehr in die Klappe gelegt worden. Braucht es das Babyfenster überhaupt noch?

Wenn es das Fenster nicht mehr bräuchte, könnte man gut und gerne behaupten, dass eine Besserung in unserer Gesellschaft eingetreten wäre. Fakt ist, dass unterdessen mehr als acht solche Einrichtungen entstanden sind. Hinzu kommt möglicherweise, dass der neue Platz des Fensters im Spital Einsiedeln zwischen Notfallstation und Impfzentrum keine ideale Lage mehr bietet, wegen der damit verbundenen Bewachung und des Personenverkehrs. Der Ort könnte Mütter davon abhalten, anonym ihr Baby abzugeben. Die Babyklappe ist rechtlich und moralisch umstritten. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Natürlich befinden wir uns juristisch betrachtet in einer Grauzone. Die Gegner des Babyfensters argumentieren, dass ein abgegebenes Kind keine Möglichkeit habe, seine Herkunft zu erfahren. Aber ist das Recht auf Leben nicht höher zu gewichten als die Identität? Fakt bleibt: Mit Hilfe des Babyfensters können wir eine Mutter davon abhalten, dass sie ihr neugeborenes Kind aussetzt. Sie gewinnt Zeit für eine Denkpause. Und eine Frau in höchster Not braucht diese für Lösungen.

Können Babyfenster von Eltern benutzt werden, die ihr Kind ansonsten regulär zur Adoption freigegeben hätten, um sich der elterlichen Verantwortung zu entziehen? In der Schweiz ist die anonyme Geburt nicht erlaubt. Als Folge dessen muss eine Mutter ihr Kind möglicherweise irgendwo in freier Natur gebären. Ohne den Schutz von Hebamme und Arzt mit all den damit verbundenen Risiken für Mutter und Kind und anderen Komplikationen. Ich glaube nicht, dass sie in dieser Situation an eine Adoption denkt: Sie will anonym bleiben. Kann die Existenz der Babyklappen die Situation so mancher verzweifelten Mutter sogar noch verschärfen? Wie bereits gesagt, bei Komplikationen der Geburt ohne Arzt und Hebamme, wie auch bei Frauen, die noch nicht geboren haben und nicht wissen, was auf sie zukommt: Es ist eine Rettung für das Kind, aus welcher möglichen Ursache auch immer (soziale und finanzielle Not, Kriminalität, Erpressung, Prostitution und Ähnliches).

Das Babyfenster wird elektronisch überwacht – ohne Videoüberwachung. Ab dem Öffnen des Fensters geht es drei Minuten, bis die diensthabende Hebamme alarmiert wird. Macht die Mutter das Fenster zu, lässt sich das Fenster nicht mehr öffnen.

Foto: Magnus Leibundgut

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