Die vermeintliche Kälte-Halluzination ist 46 Jahre alt und ziemlich munter
Unsere Autorin traute ihren Augen nicht, als sie im kalten Schneegestöber einen Jogger in Badehose entdeckte. Das Interview führte sie jedoch in ihrem geheizten Künstleratelier.
OLIVERA KÄLIN
Es ist ein unglaublich kalter Januarmorgen. Warm eingepackt laufe ich die leichte Steigung von der Badi zum Roblosenweg hoch. Die Temperaturen sind im Minusbereich und ein eisiger Wind peitscht mir erbarmungslos ins Gesicht. Ich frage mich, warum ich um Gottes Willen bei diesem Wetter nicht einfach wie der Rest der Menschheit in der warmen Stube bleibe und mit meinem morgendlichen Lauf abwarte, bis das Wetter sich beruhigt. Frierend kuschle ich mich in meine dicke Daunenjacke rein und ziehe schnell den warmen Schal über Nase und Mund. «Der Atem bleibt fast stehen»
Oben am Weg angekommen, ist der Wind noch stärker, noch kälter. Ich versuche durch den dichten Schneefall den Blick nach vorne zu richten. Dann bleibt mir der Atem fast stehen! Weit vorne sehe ich jemanden am Weg. Und dieser jemand scheint ziemlich nackt zu sein!
Ich frage mich, ob ich nun Kälte-Halluzinationen habe und schaue nochmal prüfend nach vorne. Und tatsächlich, ein Mann, gekleidet nur in schwarzen Boxershorts, joggt mir frisch und fröhlich entgegen. Leichten Schrittes kommt er immer näher und grüsst mich lächelnd. Mein Lächeln ist kurz und schon fast eingefroren, so kalt ist es da draussen! Unglaublich, da stürmt es die Welt aus allen Fugen und dieser Sportler, gekleidet nur in seine Haut, joggt unbeeindruckt weiter! Mein Staunen ist gross und die Neugier wird buchstäblich im Schnee geboren.
Der unerschrockene Sportler heisst Attila!
Attila Angst heisst der unerschrockene Sportler, dem man neuerdings in unserer Region begegnet. Ein passionierter Sportler, der seit Kurzem hier lebt und nach dem sich die Menschen regelmässig neugierig umdrehen. Attila, warum joggst du ohne Kleider in der Kälte? Ich mag die Kälte generell. Es gibt mir ein gutes Gefühl, mich der Kälte auszusetzen. Der Körper wird enorm gefordert und man spürt sich selbst so intensiv, wie es sonst nicht möglich ist. Auch psychisch bin ich dann enorm präsent. Alles wird viel intensiver, heller und klarer! Danach fühle ich mich einfach super erholt, frisch und happy! Seit wann beschäftigst du dich mit der Kälte? Ich könnte sagen, schon mein ganzes Leben. Ich mochte sie schon immer und kombinierte sie viele Jahre mit den Saunagängen und dem anschliessenden Kältebad. Dann gab es lange Zeit fast ein Ritual, vor oder nach dem morgendlichen Kaffee mal kurz ins Eiswasser zu gehen (lacht erfrischend). Zusätzlich beschäftigte ich mich mit dem Wissen über die Wirkung der Kälte auf den menschlichen Körper und natürlich auch mit dem führenden Kälteexperten und Extremsportler Wim Hof. Wie wirkt sich die Kälte auf den menschlichen Körper aus? Die Kälte löst im Eiltempo eine Botenstoffe-Explosion aus, Noradrenalin und Dopamin werden ausgeschüttet. Der Körper wehrt sich zuerst gegen den Stress und setzt Energien frei, die ihn in diesem Prozess unterstützen. Dies ist natürlich ein super Muskeltraining für die Gefässe. Ich fühle mich danach frisch und kraftvoll! Auf der emotionalen Ebene passiert auch extrem viel: Hirn, Herz und Seele sind dann voller Hochgefühle! Und plötzlich entsteht auf der körperlichen und geistigen Ebene etwas ganz Warmes! Das ist unendlich faszinierend! Wie bist du auf die Idee gekommen, die Kälte für den Sport zu nutzen? Ich wollte mich einem intensiven Stress aussetzen, beobachten, wie mein Körper darauf reagiert und ausloten, was es auf der geistigen Ebene mit mir macht. In den Momenten der intensiven Kältewirkung kommt es zu einer starken neurologischen Reaktion des Körpers. Mit der Zeit und der fortlaufenden Übung lernt das Hirn diese Stresssituation ruhig und kontrolliert zu bewältigen. Das faszinierte mich: Die Kälte annehmen und ruhig bleiben! Zudem ist es gut für die allgemeine Stressbewältigung, man lernt einfach ruhig zu bleiben (lacht zwinkernd). Es erinnert mich auch an die Ursprünge des Menschen. Wir waren damals, vor Tausenden Jahren, auch so ziemlich wenig bekleidet auf der Jagd. Es fühlt sich einfach sehr natürlich an. Wie sieht es aus mit den gesundheitlichen Auswirkungen? Bist du manchmal erkältet? Ich hatte leider seit meiner Kindheit Asthma. Dies beeinträchtigte mich natürlich in vielem. Ausserdem hatte ich eine starke Milben-Allergie. Dies alles ist jetzt verschwunden, ich habe kein Asthma und keine Allergien mehr! Erkältungen und die lästige Wintermüdigkeit kenne ich natürlich auch nicht mehr. Dies sind die beste Gründe, auch weiterhin in der Kälte zu trainieren. Warst du auch schon im winterlichen Sihlsee schwimmen? Ja, natürlich. Je nach Zustand des Wassers ist diese Erfahrung sehr unterschiedlich. Momentan hat es viel Eis im Wasser und man muss vorsichtig sein, dass man sich an den Eisplatten nicht verletzt. Sie sind scharf und können schnell in die Haut schneiden. Aber ein Vergnügen ist es trotzdem, im winterlichen Sihlsee zu baden!
Attila, und was machst du im Sommer? Hast du dann Entzugserscheinungen?
Ja, habe ich tatsächlich! Im Sommer vermisse ich die Kälte sehr. Aber auch da habe ich eine kreative Lösung gefunden. Ich habe in unserem Wintergarten eine Tiefkühltruhe aufgestellt, in der das Wasser permanent auf null Grad abgekühlt ist. Da setze ich mich dann rein und geniesse die schöne Aussicht rundum. Der Deckel bleibt aber offen (lacht schelmisch).
Du lebst seit Kurzem mit deiner Familie in unserer Region. Wie gefällt es dir hier? Ich bin in Zürich aufgewachsen, war aber schon früher oft hier. Insbesondere in der Jugend machte ich viel Sport, kam zum Skifahren, Biken, Joggen … Es gibt so viele Möglichkeiten hier. Es ist eine höchst interessante Region und das auf vielen Ebenen: landschaftlich, sportlich, kulturell, spirituell … Wir sind begeistert! Ja, es ist ein Traum, hier zu leben!
* Der 46-jährige Attila Angst, Inhaber einer Sprachschule in Zürich, lehnt sich genüsslich zurück und betrachtet interessiert die Kunstwerke in meinem Atelier. Die Spannung der Gedanken vibriert fast hörbar im Raum. Nun wird das Lächeln in seinem Gesicht etwas leiser, nachdenklicher. Dann sagt er sinnierend: «Es gibt so viele Sprachen auf dieser Welt. Sprache der Farben, der Musik, der Bewegung … Von den vielen menschlichen Fremdsprachen ganz zu schweigen! Nicht alles können wir auf Anhieb verstehen und manches bleibt uns auch verborgen. Die Sprache der Kälte versteht man aber sofort!» Attila, der König der Kälte, lacht dabei herzerwärmend.
«Plötzlich entsteht auf der körperlichen und geistigen Ebene etwas ganz Warmes»: Attila Angst, Kälte- Jogger. Foto: Olivera Kälin