«Die Jugend findet statt – ob mit oder ohne Corona»
Wie erleben Kinder und Jugendliche die jetzige von Krisen geprägte Zeit? Patrick Schmutz, der 44-jährige Leiter der Schulsozialarbeit im Bezirk Einsiedeln, klärt über die Corona-Pandemie auf und beschreibt deren Folgen für die Jugend von heute.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Wie geht es den Einsiedler Schülern in diesen Zeiten?
Eigentlich wie dem Rest der Bevölkerung: Die einen Schüler können mit der speziellen Situation relativ gut umgehen und finden einen Weg, um über die Runden zu kommen. Für andere ist es eine schwierige Zeit, sie vermissen den Ausgang, die Treffen mit den Freunden, die verschiedenen Freizeitaktivitäten. Klagen Schulkinder vermehrt über psychische Probleme, die in einem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen? Naturgemäss hat coronavirusbedingt die psychische Belastung zugenommen. Wenn Freizeitaktivitäten ausfallen und die sozialen Kontakte stark eingeschränkt sind, geht dies nicht spurlos an den jungen Menschen vorbei. Vermehrt nehmen Jugendliche unser freiwilliges Beratungsangebot in Anspruch. In diesen Gesprächen rücken persönliche Fragen, Lernschwierigkeiten, psychische Probleme, Verhaltensauffälligkeiten und Konflikte in der Familie in den Fokus. Können Jugendliche gut mit der Maske umgehen? Ich finde, die Jugend trägt im Grossen und Ganzen diese Massnahmen gut mit. In Einzelfällen steht zur Diskussion, dass die Masken nicht richtig angezogen sind. Hinderlich ist die Maske sicherlich im persönlichen Kontakt zu den Mitschülern, wo zusätzlich die Distanzregel gerade bei Jugendlichen oftmals schwierig einzuhalten ist. Gerade in dieser Altersklasse bekommt der Kontakt zu den Gleichaltrigen nochmals einen anderen Stellenwert (erstes Verliebtsein, Austausch in Gruppen).
Wegen der Pandemie pausiert das soziale Leben gerade. Fast alle Gemeinschaftserlebnisse sind verboten. Kein Ausgang, kein Kino, keine Partys: Wen trifft das? Alle sind davon betroffen! Wir Menschen sind soziale Wesen und sind auf einen Austausch angewiesen. Dies zeigt sich auch daran, dass das Thema «Einsamkeit» wieder vermehrt zur Diskussion gekommen ist. Erwachsene weichen auf Tätigkeiten wie Skifahren, Wandern, Velofahren aus, gehen in die Natur spazieren. Jugendlichen hingegen fehlt das Gruppenerlebnis, der Kontakt zu Gleichaltrigen.
Jugendliche müssen derzeit coronavirusbedingt mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen als mit ihrer Clique: Kann für junge Menschen zu viel Familie ein Desaster sein? In der Jugendzeit findet eine Identitätsfindung statt, eine Loslösung und Abgrenzung von der Familie. Just dies wird nun durch Corona erschwert: Stattdessen finden sich Jugendliche isoliert in ihrer Familie wieder. Es geschieht also exakt das Gegenteil von dem, was eigentlich in der Jugend angesagt wäre: Statt, dass Jugendliche um die Häuser ziehen, sind sie zu Hause bei ihrer Familie. Das engere Zusammensein kann durchaus dazu führen, dass es dann zu vermehrten Konflikten kommt. Beobachten Sie, dass Jugendliche vermehrt aus der Familie ausbrechen möchten, bereits 15-Jährige zu Hause ausziehen wollen? Vor Corona sind wohl viele Jugendliche nach Zürich in den Ausgang gefahren. Das geht jetzt nicht mehr. Und auch die lokale Anbindung durch hiesige Vereine und den Sport funktioniert nur noch bedingt. Das kann dazu führen, dass Jugendliche derzeit zu Hause mit dem Zustand nicht glücklich sind – ohne dass aber gleich ein Auszug aus dem Elternhaus auf dem Programm steht. Es macht sich zunehmend eine Gereiztheit in der Gesellschaft bemerkbar. Beobachten Sie dies auch bei Kindern und Jugendlichen?
Nach einem Jahr Pandemie zeigt sich auch bei Kindern und Jugendlichen vermehrt eine Corona- Müdigkeit: Man würde gerne ausbrechen aus dieser Zeit, in die Normalität zurückkehren, wieder ein Leben führen wie früher. Vieles scheint verbaut derzeit, ein schneller Weg aus der Krise gibt es wohl aber nicht. Ist die heutige Jugend drauf und dran, ihre Jugend zu verpassen? Die Jugend findet statt – mit oder ohne Corona. Zudem ist es sich die heutige Jugend längstens gewöhnt, via Social Media digital zu verkehren. Dank virtuellen Plattformen trifft sich die Jugend im Netz. Nichtsdestotrotz denke ich, fehlt eine gewisse «Lockerheit», es gelten viele Regeln und Vorschriften, welche ja auch uns Erwachsene im Alltag prägen, dies spürt die Jugend, in einer Zeit, wo mit der Pubertät, der Suche nach sich selbst, der Berufswahl und der Loslösung vom Elternhaus viele Faktoren dazukommen. Befürchten Sie, dass die Pandemie der Entwicklung der Jugendlichen nachhaltig schadet?
Mit Bestimmtheit gräbt sich diese Zeit als etwas Einschneidendes in das Leben vieler Jugendlicher ein: Schliesslich haben Jugendliche ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene: Für junge Leute hat die Dauer eines Jahres eine andere Dimension als für Ältere, weil es für sie viel langsamer vergeht als für uns. Wenn die Pandemie noch länger dauern sollte, könnte ich mir vorstellen, dass es zu einer weiteren Zunahme von psychischen Problemen und zwischenmenschlichen Konflikten kommen könnte. Die Forschung spricht bereits von der Generation Corona: Ist es Zufall, dass «Lost», verloren, das Jugendwort des Jahres 2020 ist? In der Jugendsprache scheint dies weniger mit «ich bin verloren» übersetzt zu werden, die Jugendlichen drücken mit der Aussage «ich bin Lost» eher aus, dass sie ahnungslos, unsicher oder unentschlossen sind. Die Jugendlichen hatten schon immer ihre eigene Sprache, welche sie im Umgang mit Gleichaltrigen pflegen. Die sozialen Medien aber auch die Musik sind oftmals prägend bei solchen Wortspielereien.
Man darf nicht unterschlagen, dass Jugendliche ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind und daher das Wort «Lost» zur aktuellen Situation ja durchaus auch etwas auszudrücken vermag. Es gibt auch Positives aus dieser Zeit zu berichten: Kinder, welche wieder mehr Zeit mit der Familie geniessen können, wo vielleicht auch der Vater, welcher häufig arbeitsbedingt abwesend ist, dank Homeoffice mehr zu Hause ist. Wäre es hilfreich, den Jugendlichen mehr Innenräume zu verschaffen und die Regeln auf dem Areal von Jugendhäusern, zumindest für Angehörige derselben Schulklasse, zu lockern? Schon vor Corona war sehr vieles in der Welt der Jugendlichen reglementiert und jetzt mit Corona gelten noch mehr Vorschriften. Ich denke die Regeln, welche vom Bund verordnet sind, können nicht einfach umgangen werden, auch wenn dies gerade im Freizeitbereich für Jugendliche eine schwierige Zeit ist. Die Zukunftsaussichten sind ungewiss. Wie wirkt sich dies auf die Schüler aus, die bald eine Lehrstelle, ein Studium, das Gymnasium in Angriff nehmen?
Im letzten Jahr sind das Abschlussfest und die Präsentation der Arbeiten wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. Das geht nicht spurlos an den Schülern vorbei. Wenn Schnupperlehren aus dem Programm gekippt werden, ist dies heikel. Dank diesen können Schüler einen Einblick in ein Berufsfeld gewinnen, sich Praxis aneignen. Die aktuelle Lage ist sicher nicht optimal. Wie hat sich im Rückblick auf den ersten Lockdown der Fernunterricht auf die Psyche der Schüler ausgewirkt? Die Situation war schwierig für viele Schüler. Eine Schliessung der Schulen sollte man deshalb nicht auf die leichte Schulter nehmen. Für viele fehlten die wichtigen sozialen Kontakte zu ihren Mitschülern, der geregelte Schulalltag, welcher von einem Tag auf den anderen weggefallen ist, vermehrter Stress in der Familie. Alle diese Umstände haben dazu geführt, dass es einigen Kindern und Jugendlichen psychisch nicht so gut ging. Dann gab es aber auch diejenigen, welche den Freiraum genossen haben und durchaus etwas bezüglich Selbstorganisation lernen konnten. Wie schätzen Sie die Perspektiven ein, die das Schulwesen in der kommenden Zeit hat? Maskenpflicht und Social Distancing bleiben wohl auch dem Schulwesen noch etwas erhalten. Eine Chance bietet die vermehrte Auseinandersetzung mit den digitalen Medien, welche weiteres Potenzial bieten. Wohin bewegt sich die Welt?
Das Coronavirus bietet die Chance, die Dinge im persönlichen Umfeld sowie auch auf die gesamte Gesellschaft betrachtet zu hinterfragen. Man ist auf sich zurückgesetzt, wägt vielleicht mehr ab, was wichtig für einem ist im Leben und was nicht. Die Gesellschaft könnte die Chance nutzen, sich den Wert und Nutzen der Solidarität und des Miteinanders wieder vermehrt in den Fokus zu rücken.
«Wenn Freizeitaktivitäten ausfallen und die sozialen Kontakte stark eingeschränkt sind, geht dies nicht spurlos an den jungen Menschen vorbei.»
Patrick Schmutz, Leiter der Schulsozialarbeit im Bezirk Einsiedeln
Patrick Schmutz ist Leiter der Schulsozialarbeit im Bezirk Einsiedeln: «Man würde gerne ausbrechen aus dieser Zeit, in die Normalität zurückkehren, wieder ein Leben führen wie früher. Die Jugend trifft sich derweil dank virtuellen Plattformen im Netz.» Foto: Magnus Leibundgut