Veröffentlicht am

«Eine zunehmende Konfusion ist in der Gesellschaft spürbar»

«Eine zunehmende Konfusion ist in der Gesellschaft spürbar» «Eine zunehmende Konfusion ist in der Gesellschaft spürbar»

Just seit einem Jahr dauert nun die Corona-Pandemie an. Der Einsiedler Psychiater Kaspar Schnyder schildert die seelischen Belastungen in Zeiten von Corona: «Es sind vor allem die Jungen, die unter den Massnahmen leiden, die wegen des Virus ergriffen worden sind.»

MAGNUS LEIBUNDGUT

Wie macht sich die Corona-Pandemie in der Psyche der Menschen bemerkbar? Die Leute sind zunehmend gereizt, was vor allem mit den Massnahmen zu tun hat, die wegen des Coronavirus ergriffen worden sind. Viele nerven sich etwa wegen der Maskentragpflicht: Die Maske verhindert eine nichtverbale Kommunikation, was zu einer Verunsicherung führen kann.

Kommt es zu einem Anstieg der Zahl an Patienten, die wegen des Coronavirus behandelt werden müssen? Das kann bei Erwachsenen nicht beobachtet werden, es sei denn auf indirektem Wege bei Eltern, deren Kinder unter der Pandemie leiden. Es ist denn eher bei Kindern und Jugendlichen davon auszugehen, dass sich diese wegen der Corona-Pandemie in psychiatrische Behandlung begeben. Am meisten leiden neben Sekschülern und Lehrlingen die Studenten, die gerade in dieser Zeit ihr Studium in Angriff genommen haben: Ihnen fehlt jeglicher Präsenzunterricht und studentische Kultur. Sie sind isoliert, weil ihnen sämtliche Kontakte abhandengekommen sind.

An welchen psychischen Krankheiten leiden die Leute in diesen Zeiten?

Es sind viele frustriert, weil derzeit gerade einige Lebensträume zerplatzen. Wenig erstaunlich ist, dass aufgrund wirtschaftlicher Turbulenzen einige resignieren und keine Perspektiven mehr haben. Existenziell sind vor allem Leute aus dem Gastgewerbe sehr von einer Krise betroffen. Wenn sich die existenzielle Grundlage auflöst und man am Boden zerstört ist, wird man naturgemäss depressiv.

Stellen Sie fest, dass Gewalt, Gewaltausbrüche zum Thema werden? Es gibt zwar den Zwischenfall am Güdelmontag, als junge Leute am Bahnhof Einsiedeln mit Flaschen und Böllern die Polizei angegriffen haben. An sich sind Gewaltausbrüche aber eher in städtischen Agglomerationen denn auf dem Land anzutreffen. Was häusliche Gewalt anbetrifft, ist mir ein einziger Fall einer Familie bekannt. Wieso haben es gerade die 14bis 20-Jährigen so schwer, einen Umgang mit dieser Zeit zu finden? Es sind vor allem die Jungen, die unter den Massnahmen leiden, die wegen des Virus ergriffen worden sind. In der Jugendzeit sind Ablösung von der Familie, Individuation und Peergroups wichtig. Und just genau dies wird nun durch die Massnahmen verhindert: Die Jugend ist in diesem Sinne viel stärker von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen als Erwachsene. Ist die heutige Jugend in Gefahr, ihre Jugend zu verpassen? Ein Jahr Corona-Pandemie reicht wohl nicht aus, um gerade die ganze Jugend zu verpassen. Schwerwiegender war da wohl die Situation von Adoleszenten, deren Jugend just in die Zeit eines Weltkrieges gefallen ist: Diese Leute haben in der Tat ihre Jugend verpasst.

Hilft älteren Menschen ihre Lebenserfahrung, besser mit dieser Krisenzeit umgehen zu können als dies Jugendlichen gelingen mag?

Wider Erwarten reagieren oftmals just Senioren erstaunlich gelassen auf die Corona-Krise: Sie finden vermehrt Ruhe in dieser Zeit, fühlen sich sicher in ihrem Altersheim wie auf einer Insel, erfahren Solidarität. Jungen Leuten fehlt es demgegenüber in der Tat an Lebenserfahrung, um mit einer solchen Krise adäquat umgehen zu können. Resilienz ist etwas, das sich im Verlauf eines Lebens aufbaut.

Bemerken Sie Unterschiede in der Situation, wenn Sie die erste mit der zweiten Welle vergleichen?

Während des Lockdowns im Frühling haben sich Junge überwiegend diszipliniert verhalten und sich an die vorgeschriebenen Regeln gehalten. Demgegenüber haben sich Ältere damals öfters über die Regeln hinweggesetzt. In der jetzigen Situation nehmen der Ärger und der Missmut über die Massnahmen überhand, weil diese gar nicht mehr verstanden werden. Die Gefahr nimmt zu, dass man die Regeln auch nicht mehr ernst nimmt. Hinzu kommen irritierende Signale aus der Politik, von links und von rechts: Allgemein ist eine zunehmende Konfusion in unserer Gesellschaft spürbar.

Welche Art von Therapie wenden Sie an, um Menschen zu helfen, die wegen des Coronavirus in Turbulenzen geraten? Ich halte es mit den Stoikern und versuche, den Leuten eine Gelassenheit gemäss der Philosophie der Stoa zu vermitteln: Es macht keinen Sinn, Dinge verändern zu wollen, die sich nicht verändern lassen, die man nicht verändern kann. Die Person an sich hingegen ist veränderbar: In diesem Sinne versuche ich, mittels kognitiver Verhaltenstherapie die Menschen zu unterstützen, ihr Leid in dieser Zeit selbst zu lindern. Die Welt ist, wie sie ist; unsere Gefühle entstehen jedoch durch die Art und Weise, wie wir auf diese Welt schauen. Die Gefühle können wir verändern.

Haben die Leute mehr Mühe mit den Massnahmen, die wegen der Pandemie beschlossen wurden, als mit dem Virus an sich? Das ist korrekt. Es gibt sicherlich einige wenige, die ängstlich sind und sich vor dem Coronavirus fürchten – so wie es immerzu in jedem Winter Leute geben mag, die Angst vor einer Grippeerkrankung haben. Aber das Gros der Menschen findet die Massnahmen unmöglich und reibt sich an den Regeln, die der Bund vorgibt.

Wenn Sie eine Bilanz ziehen nach einem Jahr Corona-Pandemie: Sind Sie überrascht worden, wie die Menschen psychisch auf das Virus reagieren?

Nein, überhaupt nicht. Wir leben nun einmal in einer Spass-, Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Es ist bezeichnend, dass sich viele bereits vollends eingeschränkt fühlen, wenn sie nicht mehr wie üblich Spass haben und dem Konsum frönen können. Es ist einfach lächerlich, bereits davon zu sprechen, dass unsere Freiheit wegen diesen Massnahmen in Gefahr geraten könnte. Es ist bezeichnend, dass in unserer Gesellschaft Freiheit über alles andere gestellt wird – und sich diese Freiheit aber denn ausschliesslich auf äussere Dinge bezieht: Vielleicht ist just dies das Aussergewöhnliche, was diese Corona-Pandemie und ihre Folgen für die Psyche des Menschen zum Ausdruck bringen mag.

«Es sind viele frustriert, weil derzeit gerade einige Lebensträume zerplatzen.» «In der Jugendzeit sind Individuation, Ablösung von der Familie und Peergroups wichtig.» «Wider Erwarten reagieren oft just Senioren erstaunlich gelassen auf die Corona-Krise.»

Kaspar Schnyder ist Psychiater und Psychotherapeut im Gesundheitszentrum Einsiedeln: «Die Leute sind zunehmend gereizt.» Foto: zvg

Share
LATEST NEWS