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«Es war noch nicht richtig fertig»

«Es war noch nicht richtig fertig» «Es war noch nicht richtig fertig»

Stefan Hensler kehrte einen Sommer lang auf die Alp «Ufem Tritt» zurück – auch um Abschied zu nehmen

Es war die Familienalp der Henslers, auch wenn «Ufem Tritt» der Genossame Dorf-Binzen gehört. Stefan Hensler kehrte im letzten Sommer nochmals dorthin zurück.

VICTOR KÄLIN

Sein Grossvater Franz war «Ufem Tritt» und sein Vater Walter ebenso – letzterer 55 Sommer lang. Und als er, Walter Hensler, 2019 im Alter von erst 68 Jahren überraschend starb, geschah dies im September, am letzten Tag des Alpsommers. So abrupt der Abschied von seinem Vater war, so abrupt war auch für die Familie der Abschied von der Alp «Ufem Tritt». Kurz nach der Geburt bereits «Ufem Tritt» «Irgendwie war diese Geschichte nicht richtig fertig», sinniert Stefan Hensler, der mit Jahrgang 1980 erstgeborene Sohn der Familie Walter und Monika Hensler. Denn die Beziehung zur Alp oberhalb von Einsiedeln war auch bei ihm innig – sie wurde ihm buchstäblich in die Wiege gelegt. Er kam am 1. Juni zur Welt. Und wenige Tage danach gings vom Spital hinauf auf den Tritt.

Vier Kinder waren es letztlich. Jeden Sommer verbrachten sie viele Tage bei Vater und Mutter auf der Alp, halfen mit und gewöhnten sich an ein einfaches Leben, in dem doch nichts fehlte – ausser vielleicht eine Dusche. Weil es aber auch im Tal immer viel zu tun gab, suchte man immer wieder den heimischen Bauernhof «Beugen» auf, der direkt hinter der Grotzenmühle liegt. «Und Mutter konnte dann auch gleich noch die Wäsche machen. » Und trotzdem nicht Bauer geworden Trotz väterlichem Hof und gutem Draht zu Tieren wollte Stefan Hensler nie Bauer werden. Spätestens als es um die Berufswahl ging, war definitiv klar, dass ihm ein eigener Hof «zuverpflichtend und zu bindend» erschien. Statt auf die landwirtschaftliche Schule gings an die Kantonsschule nach Pfäffikon. Und seit zehn Jahren ist der heute 40-Jährige Personalfachmann bei der Schweizerischen Post. Statt mit Tieren hat er vor allem mit Menschen zu tun. Seine Arbeit führt ihn gewöhnlich in den Nordosten des Landes: Glarnerland, Rheintal und vor allem Graubünden. Wohnhaft ist der Junggeselle in Trachslau. Der Hof blieb trotzdem in der Familie: Sein jüngerer Bruder Peter bewirtschaftet den «Beugen». Der Kontakt zur Alp «Ufem Tritt» brach jedoch nie ab. Auch im letzten Alpsommer seines Vaters half Stefan Hensler bei der Arbeit. «Es war mir alles so vertraut. » Entsprechend gross waren die Emotionen und Erinnerungen, als der Vater so unvermittelt starb. «Es ist noch nicht richtig fertig», sagte sich Stefan Hensler damals. «Ich musste nochmals hinauf. Ein letztes Mal. Ganz bewusst.» Die Genossame Dorf-Binzen war einverstanden und sein Arbeitgeber ebenso, dieser gewährte ihm unbezahlten Urlaub. «Ich wusste also, dass ich nach der Alpsaison wieder zurück zur Post und zu meinem Team konnte – was ich ja auch unbedingt wollte.» Und so verbrachte Stefan Hensler von Ende Mai bis Mitte September die Alpsaison 2020 nochmals «Ufem Tritt». Diesmal als Alleinälpler, ohne die vertraute Gesellschaft seines Vaters. Obwohl er in einer Viertelstunde zu Hause gewesen wäre, wohnte er bewusst in der Tritthütte – einzig zum Einkaufen und Duschen zog es ihn ins Dorf. Seine Begleiter waren rund 120 Stück Kälber, Rinder und Kühe. Sowie drei Ziegen und der Hund, der sonst im «Beugen» zum Rechten sieht. Am Wochenende war er, oft mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter Monika, Gastgeber «Ufem Tritt». Die Tritthütte, welche im Herbst und Winter vom SAC Einsiedeln betreut ist, wird von Wanderern jeweils auch im Sommer gerne aufgesucht. «Arbeit und Bewegung haben mir sehr viel gegegeben» Die Arbeit als Älpler liess sich gut an, der Sommer sei «nicht besonders streng gewesen», kann Stefan Hensler im Nachhinein bilanzieren. Dennoch war die Arbeit mehr, als er anfänglich vermutet hatte. Doch sein Entscheid war richtig: «Auf jeden Fall. Ich möchte den Alpsommer nicht missen. Die Arbeit und die Begegnungen haben mir sehr viel gegeben; es war befriedigend, einfach eine gute Zeit.» Er schätzte es, dass die Gespräche mit den vielen Besuchern «auf einer starken Ebene» stattgefunden hatten, ohne Hektik und Zwänge und Nebensächlichkeiten. Viele empfanden den Besuch «Ufem Tritt» als kleine Auszeit, als einen Moment, der die Alltagssorgen hinter sich lässt.

Und auch mit den Tieren verstand sich Stefan Hensler gut. Er registrierte nicht nur deren Gefühle, sondern auch, dass sie auf seine eigenen Emotionen reagieren. Am letzten Alptag standen die Kälber Spalier, wie wenn sie sich von ihm verabschieden wollten. Und den Hund kriegte er partout nicht mehr ins Auto, weil dieser ahnte, dass es kein Zurück mehr gibt.

Für den Beruf etwas mitnehmen «Immer wieder», so Hensler, «nehme ich bei vielen Menschen wenig Empathie wahr; vermutlich können Tiere das besser.» In seinem Job sei Empathie jedoch sehr wichtig. Deshalb möchte er «noch sensibilisierter darauf achten. Ich möchte meine Aufmerksamkeit, mein Einfühlungsvermögen und meine Menschenkenntnis noch weiter trainieren». «Hat mir wirklich gut getan»

Auf der Alp nicht vermisst hat er «gestresste, jammernde und oberflächliche Menschen». Erschreckend oft nimmt Hensler Menschen als unzufrieden und neidisch wahr. «Statt an sich zu arbeiten und etwas zu ändern, schaden sie anderen Menschen.» Die Begegnungen mit den Menschen «Ufem Tritt» seien aber nie von solchen negativen Werten geprägt gewesen, kann Hensler zusammenfassen. Folgen nun weitere Alpsommer? Stefan Hensler verneint. Er hat nichts geplant, sondern ist freudig wieder in seinen Job zurückgekehrt. Ausschliessen will er aber nichts – wo und wann auch immer. «Es hat mir wirklich gut getan und sehr gut gefallen.»

Einer der beiden Stubentische «Ufem Tritt», welche vor allem an den Wochenenden zum Gästetisch wurden.

Alles auf einen Blick. Der Älpler Stefan Hensler, vier der rund 120 Tiere sowie die Tritthütte.

Aus der Ziegenmilch gab es kleine Mengen an Frischkäse.

Zum Abschied Spalier gestanden: die Kälber am letzten Alptag. Fotos: zvg

Es lässt sich gut leben «Ufem Tritt».

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