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«Ich habe dort gekämpft, wo ich ein Ziel vor Augen hatte»

«Ich habe dort gekämpft, wo ich ein Ziel vor Augen hatte» «Ich habe dort gekämpft, wo ich ein Ziel vor Augen hatte»

Am 7. Februar 2021 ist es genau fünfzig Jahre her, seit die Schweizer Männer den Frauen das Stimmrecht gewährt haben. Lisbeth Schmid, 67-jährige Legasthenietherapeutin aus Einsiedeln, schaut zurück auf bewegte Zeiten im Klosterdorf.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Welche Erinnerungen haben Sie an den 7. Februar 1971?

Keine. Ich war damals gut 17 Jahre alt und hatte anderes im Kopf. Das Frauenstimmrecht war kein Thema, das mich interessiert hatte, obwohl die Frauen im Kanton Luzern bereits seit dem Jahr 1970 stimmen und wählen durften. Ich war zu jung, um 1971 auf nationaler Ebene vom Frauenstimmrecht profitieren zu können: Damals durften 18-Jährige noch nicht an die Urne. Aufgewachsen bin ich in einem Frauenhaushalt: Meine Mutter und meine Grossmutter hatten früh ihren Vater verloren und das Leben selbst in die Hand genommen. Sie waren eigenständige Frauen, ohne Feministin zu sein. Ich hatte dadurch, aus der Not geboren, ein positives Vorbild, was das Frausein anbelangt. War es für Sie als Mädchen oder als Jugendliche selbstverständlich, dass Frauen nicht stimmen und wählen dürfen? Das fehlende Frauenstimmrecht hat nicht dazu geführt, dass ich mich weniger wertvoll gefühlt hätte. Es war für mich immerzu klar, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und gleichwertig behandelt werden müssen. Eher ins Gewicht fielen für mich gesellschaftliche Gründe: Ich war gerne ein Mädchen, wäre aber manchmal gern ein Bub gewesen, weil Mädchen von Sportvereinen ausgeschlossen waren und im Turnen Röcke tragen mussten. Ministrantin wäre ich auch gerne geworden, aber vom Messdienst in der Kirche waren Mädchen damals gleichsam ausgeschlossen.

Haben Sie dann bereits an der ersten Urnenabstimmung teilgenommen, die für Frauen offen war? 1973 war ich zwanzig Jahre alt und bin das erste Mal an die Urne abstimmen gegangen. Die Einführung des Frauenstimmrechts hat kaum etwas verändert in meinem Leben, die Emanzipation der Frauen aber doch sehr beflügelt. Ich bin fortan nie politisch aktiv geworden – mit Ausnahme meiner Mitgliedschaft im Kantonskirchenrat in der frisch geborenen katholischen Schwyzer Kantonalkirche. Dass dort den Ausländern das Stimmrecht verwehrt werden soll, verstehe ich überhaupt nicht. Würden Sie sich selber als emanzipiert betrachten? Ja, auf jeden Fall. Emanzipiert zu sein bedeutet ja nichts weniger als selbstständig, eigenständig zu sein – sich zu lösen von alten Abhängigkeiten. In diesem Sinne können sich auch Männer emanzipieren. Ich habe mich nie als typische Feministin gesehen. Ich habe dort gekämpft, wo ich ein erreichbares Ziel vor Augen hatte.

War es im Klosterdorf damals verpönt, als Emanze zu gelten?

Ich habe es damals eher als schwierig empfunden, als Fremde, als Zugezogene heimisch zu werden in Einsiedeln. Ich bin 1981 ins Klosterdorf gezogen, und mein erster Eindruck war: Die Einsiedler wollen lieber unter sich bleiben. Von aussen als Fremde da hineinzukommen ins Klosterdorf, habe ich als grösseres Problem wahrgenommen. Als im Jahr 1976 die Kommission für Frauenfragen ins Leben gerufen wurde, musste eine verheiratete Schweizer Frau noch ihren Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie irgendwo arbeiten wollte. Sie auch? Echt jetzt? War das wirklich so? Das kann ich kaum glauben. Ich habe jedenfalls nie meinen Mann gefragt, wenn ich arbeiten gehen wollte (lacht). Ich habe ja bereits gearbeitet, bevor ich meinen Mann kennengelernt habe. Wie ist Ihnen der Einstieg in das Berufsleben gelungen? Als Lehrerin ist mir gleich aufgefallen: Lehrer werden anders behandelt als Frauen. Lehrerinnen durften maximal 28 Lektionen belegen, Männer konnten im Minimum zwei Stunden mehr belegen. Das hat sich dann einerseits im Lohn niedergeschlagen, andererseits haben Lehrer dank der höheren Anzahl Lektionen das Privileg genossen, ihre Klassen aufzuteilen, Halbklassen zu unterrichten. Der Grund für diese Ungleichbehandlung ist mir bis heute schleierhaft: Vielleicht hat man damals gedacht, Frauen sollten nicht zu viel arbeiten, damit die Hausarbeit und Kinderbetreuung nicht zu kurz kommt?

War es so, dass einer Frau eine Arbeit in den Schulen des Bezirks Einsiedeln verwehrt wurde, wenn ihr Ehemann bereits dort als Lehrer einen Job innehatte? Ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiss, dass es mir damals nicht möglich war, an den Schulen Einsiedeln eine Stelle zu erhalten. Zum einen gab es wohl noch keine Teilzeitstellen, vielleicht herrschte auch Lehrerüberfluss, vielleicht reichte es doch, wenn der Ehemann schon verdiente. Als ich später als Legasthenietherapeutin arbeitete, konnte ich dies in einem Teilzeitpensum machen. Dort musste ich zum ersten Mal kämpfen.

Wieso mussten Sie zum ersten Mal kämpfen? Legasthenietherapeutin war damals ein reiner Frauenberuf: Dementsprechend waren die Löhne für diese Arbeit ausgesprochen tief. Zulagen gab es keine, eine Mutterschaftsversicherung auch nicht, ebenso fehlte die Möglichkeit für fixe Teilzeitpensen. Die Zustände waren unhaltbar. Ein Beispiel hierzu: Nur weil eine Sekretärin, die für die Lohnauszahlung verantwortlich war, in ihre Hochzeitsferien abreiste, haben wir keinen Lohn erhalten beziehungsweise verspätet. Und so starteten wir im Jahr 2000 seitens des Vereins Legasthenie und Dyskalkulie Kanton Schwyz (VLDS) eine Klage gegen den Kanton – und haben Recht bekommen. Hatten es Frauen, die in die Politik einsteigen wollten, schwer im Klosterdorf?

Frauen sind selbstkritisch, haben mehr Zweifel als Männer, was ihre Fähigkeiten betrifft, wollen ihre Arbeit gut erledigen: Das sind nicht unbedingt beste Voraussetzungen, um in die Politik einzusteigen. Frauen fehlen ein breiter Rücken, die Unterstützung, ein Schupf vielleicht auch von den Männern, um für ein politisches Amt zu kandidieren. Hinzu kommt: Es ist immerzu schwer, als erste und einzige Frau in ein reines Männergremium zu geraten. Da ist die Frau von Grund auf eine Fremde, eine Minderheit. Welch Freudentag, als drei Frauen in den Bundesrat gewählt wurden. Bezirksrätinnen kann man in Einsiedeln an einer Hand abzählen: Wieso gibt es auch heutzutage kaum Frauen im Bezirksrat, im Kantonsrat, im Regierungsrat?

In der Tat: Der Kanton Schwyz ist ein sehr konservativer Kanton. Hier geht es halt viel länger, bis sich etwas verändert. Politik und Wirtschaft sind hierzulande noch immer eine Männerwelt. Ich bin an sich keine Anhängerin einer Frauenquote. Es stellt sich allerdings zu Recht die Frage, wann endlich im Kanton Schwyz ein Ausgleich der Geschlechter über die Bühne gehen soll.

Hat sich dank den Frauen die Politik in der Schweiz verändert?

Ja, weil sich dank des Frauenstimmrechts die Politik im Land an sich verändert hat. Frauen setzen sich für den Umweltschutz ein, engagieren sich im sozialen Bereich. Sie prägen den Geist, die Atmosphäre in der Politik entscheidend. Nichtsdestotrotz ist es aber auch noch immer so: Viele Frauen halten sich aus der Politik heraus. Weshalb nur hat es in der Schweiz so lange gedauert, bis das Frauenstimmrecht eingeführt wurde?

Der Kampf hat tatsächlich lange gedauert – bereits im 19. Jahrhundert haben sich Frauen für das Stimmrecht eingesetzt. Ironie des Schicksals: Die Schweiz ist von den beiden Weltkriegen verschont geblieben, hat aber wohl gerade deswegen verpasst, das Frauenstimmrecht einzuführen. Während in den umliegenden Ländern Männer als Soldaten an der Front gestanden sind im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und Frauen im Staatsdienst an ihre Stelle getreten sind und nach dem Krieg diese Position nicht mehr abtreten wollten, ist in der Schweiz vieles beim Alten geblieben. Man fühlte sich wohl, es gab keinen Grund, etwas zu ändern. Erschwerend kam hinzu: Der Kampf für das Frauenstimmrecht wurde von den Linken geführt – und die Linken galten damals als Kommunisten. Weil die Kommunisten ein rotes Tuch waren, hatte auch das Frauenstimmrecht bei den Bürgerlichen schlechte Karten.

Wenn Sie einen Blick auf die Jugend von heute werfen: Interessieren sich junge Leute überhaupt noch für Frauenrechte und die Gleichstellung von Frau und Mann? Wenn ich an meine drei Töchter denke: Das sind allesamt emanzipierte, selbstständige Frauen – mit einem gesunden Frauenbewusstsein. Für sie ist Gleichberechtigung der Geschlechter die selbstverständlichste Sache der Welt. Was mir auffällt: Ich selber reagiere auf Frauendiskriminierung empfindlicher als meine Töchter. Es stört mich zum Beispiel, wenn auf einer Foto mit wichtigen Leuten die einzige Frau die Sekretärin ist. Oder: Kürzlich sagte eine junge Frau zu mir, sie sei Lehrer. Ich würde sagen: «Ich bin Lehrerin.» Wo hapert es in diesen Zeiten in Sachen Gleichstellung von Frau und Mann? Dass Frauen noch immer nicht überall den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit haben, gehört abgeschafft. 14 Wochen Mutterschaftsurlaub sind zu wenig: Eine Mutter sollte nicht schon arbeiten gehen müssen, wenn sie noch ihr Baby stillt. Viel besser wäre eine Einführung einer Elternzeit, an der sich auch die Väter beteiligen können. Auch in Führungsfunktionen sollten Teilzeit- Pensen möglich sein, damit auch Mütter Karriere machen und trotzdem Zeit für ihre Kinder finden können. Noch immer fehlt es allerorten an schulergänzenden Betreuungsangeboten, zudem sind diese zumeist sehr teuer. Da geht vieles zu Lasten der Frau.

Wohin bewegt sich die Welt?

Unterdessen mache ich mir ebenso Sorgen um die Männer: Sie haben viel Mühe, in unserer Zeit in unserer Gesellschaft ihre Rolle zu finden. Männer sollten männlich sein, aber doch dann lieber kein Macho. Männer müssen empfindsam sein, aber bitte nicht zu empfindlich. Männer wissen gar nicht mehr, wo sie stehen. Ihr altes Selbstbild ist zerfallen, ein neues müssen sie erst suchen und finden. Frauen wiederum sind gut im Strumpf, gewinnen an Einfluss und lassen sich kaum von der Macht korrumpieren: Greta ist ein gutes Beispiel für eine junge Frau, die ihren Weg geht und die ganze Welt bewegt. Überhaupt habe ich ein gutes Gefühl, was unsere heutige Jugend anbetrifft. Sie schreitet mutig voran und setzt sich für ihre Anliegen ein. Gerade im Klosterdorf ist doch erstaunlich, wie sich junge Leute in den Einsiedler Vereinen tatkräftig engagieren und Grosses leisten.

«Mein erster Eindruck war: Die Einsiedler wollen lieber unter sich bleiben.» «Ich habe jedenfalls nie meinen Mann gefragt, wenn ich arbeiten gehen wollte.» «Frauen sind selbstkritisch, haben mehr Zweifel als Männer, was ihre Fähigkeiten betrifft.» «Ich selber reagiere auf Frauendiskriminierung empfindlicher als meine Töchter.»

Lisbeth Schmid: «Ich war gerne ein Mädchen, wäre aber manchmal gern ein Bub gewesen, weil Mädchen von Sportvereinen ausgeschlossen waren und im Turnen Röcke tragen mussten.» Foto: Magnus Leibundgut

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