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«Volkskirche ist in der Krise»

«Volkskirche ist in der Krise» «Volkskirche ist in der Krise»

Ugo Rossi heisst der neue Seelsorger in der Pfarrei Einsiedeln – er wirkt als Vikar in Bennau, Trachslau und Gross

In Ugo Rossi hat die Pfarrei Einsiedeln einen neuen Seelsorger gefunden. Er will sich mit voller Kraft in den Dienst der Menschen in der Pfarrei und der Seelsorge stellen. Neben der Pfarreiarbeit wird sich der 46-jährige Pfarrer in Zürich der Neuevangelisierung widmen.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Wie sind Sie im Klosterdorf angekommen?

Ich bin bestens in Einsiedeln gelandet und habe in Bennau eine Wohnung gefunden. Die Viertel der Pfarrei sind sehr ländlich geprägt. Überaus spürbar ist der starke Zusammenhalt in einem Viertel: In ihnen kommt ein Dörfligeist zum Ausdruck. Es braucht naturgemäss etwas Zeit, da hineinwachsen zu können. In jedem Viertel wird einmal im Monat eine Sonntagsmesse gefeiert. Schön finde ich, dass das Kloster Einsiedeln so nah ist. Was ist Ihr Beweggrund, von Goldau nach Einsiedeln zu wechseln? Ich habe im Januar und Februar an dreissigtägigen Ignatianischen Exerzitien teilgenommen. Da ist mir bewusst geworden, dass ich mich neu orientieren und alte Strukturen hinter mir lassen will. Die Volkskirche ist in der Krise: Dieses System funktioniert nicht mehr. Mit Pfarreiarbeit erreicht man heutzutage nur noch wenig Leute. Ich glaube, es macht Sinn, sich ausserhalb der alten Strukturen auf eine Neuevangelisierung zu konzentrieren.

Wie sieht Ihre Arbeit in Sachen Neuevangelisierung konkret aus? Für die Pfarreiarbeit bin ich zu einem 70-Prozent-Pensum angestellt. So bleibt ein 30-Prozent- Pensum für die Neuevangelisierung: Ich bin hierbei in Zürich mit Gassenarbeit beschäftigt und unterstütze Schwester Ariane, die täglich 130 Mahlzeiten für Randständige und Obdachlose verteilt. In dieser aufsuchenden Arbeit vereinigen sich ein Sozialdienst mit der Seelsorge. Es geht nicht zuletzt darum, mit Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft stehen, Zeit zu verbringen. Wieso ist die Volkskirche in der Krise? Dass sich die Volkskirche in der Krise befindet, ist im gesamten europäischen Raum zu beobachten. Die Kirche steht sich bisweilen selbst im Weg. Hinzu kommt, dass der überhandnehmende Wohlstand dazu geführt hat, dass die Menschen annehmen, sie könnten gut ohne einen Glauben existieren. Wir müssen der Realität ins Gesicht schauen: Der überbordende Individualismus, die Säkularisierung, drängen die Menschen aus der Volkskirche hinaus. Wir betreiben einen riesigen Aufwand mit zig Anlässen für die Kirchenmitglieder, mit Erstkommunion und Religionsunterricht: Und dann ist das Resultat doch nicht riesig, weil wir die Leute nicht mehr erreichen. Worin unterscheidet sich das Amt eines Vikars von demjenigen eines Pfarrers? Ich bin als Pfarrer in Goldau und ebenso als Dekan viel mit organisatorischen und administrativen Aufgaben beschäftigt gewesen. Diese Verantwortung kann ich in meiner neuen Funktion als Vikar abgeben. Das kommt mir sehr entgegen, denn so kann ich mich bewusst wieder ganz den Menschen in der Pfarrei und der Seelsorge widmen. Seelsorger stehen in diesen Zeiten unter hohem Arbeitsdruck. Priester sind von Burnout bedroht. Wie wappnen Sie sich dagegen, in Ihrer Arbeit auszubrennen? Wenn die Freude an der Arbeit nicht verloren geht, sind die Anzahl Stunden, die man damit verbringt, irrelevant. Seelsorge ist etwas, das einen stärkt, statt dass sie einen auslaugt. Administration auf der anderen Seite erfüllt mich nicht wirklich. Ich wappne mich gegen die Gefahr des Ausbrennens, indem ich Zeit finde, meine eigene Spiritualität leben zu können. Spiritualität erfordert Strenge und Disziplin im Alltag: Es ist mir wichtig, dass ich die Gebetszeiten einhalten und jeden Tag die Messe feiern kann. War es Ihr Bubentraum, Priester zu werden? Ja, das war es in der Tat: Und dies bereits von früh auf, im Kindergartenalter. Meine Grossmutter erzählte, dass ich mir im Alter von sechs Jahren als Geschenk zum Geburtstag einen Kelch gewünscht habe: Damit ich später als Pfarrer die Messe lesen könne (lacht). Kein Wunder ist es denn, dass ich Ministrant geworden bin und später Weltgeistlicher. Für kurze Zeit wollte ich gar ins Kloster eintreten. Aber das war wohl eher dem Heimweh geschuldet, unter dem ich in Rom am Anfang meines Studiums gelitten habe. Ich fühlte mich einsam in der Ewigen Stadt und wollte zurück in die Heimat: Und Heimat bedeutete für mich damals das Benediktinerkloster Disentis. Wie begegnen Sie Gott in Ihrem Alltag?

In allen möglichen und unmöglichen Situationen (lacht). Immer wieder begegne ich Gott im Umgang mit Menschen: Zum Beispiel, wenn sich Menschen in Not befinden. Ich begegne Gott auch im Gebet, im Dialog mit ihm. Gott schenkt uns zu guter Letzt Erfahrungen – und darin kommt sein Wesen zum Ausdruck. Wie schaffen Sie es, den Menschen den Glauben an Gott nahezubringen in Zeiten, in denen der christliche Glauben nicht mehr selbstverständlich ist? Mit Authentizität: Ich kann nur weitergeben, was ich selber glaube. Glaubensfragen können nicht mit Theorie beantwortet werden, sondern tangieren von sich die Praxis: Warum glaube ich? Wer nicht selber dahinter stehen kann, macht sich als Glaubensvermittler unglaubwürdig. Natürlich sollte die Vermittlung des Glaubens nicht allzu subjektiv ausfallen, sonst kann sie nicht nachvollzogen werden. Beobachten Sie gleichsam eine Verdunstung des christlichen Glaubens in diesen Zeiten? Eine Erfahrung aus dem Religionsunterricht, den ich während zwölf Jahren in Goldau betrieben habe: Die Kinder lassen sich noch so gerne berühren und begeistern vom christlichen Glauben. Aber wenn die Eltern zu Hause in der Familie als Multiplikatoren des Glaubens ausfallen, verdunstet dieser schnell wieder. Im Fokus steht heutzutage eine vage Naturreligion, die ziemlich beliebig und wenig nachhaltig daherkommt. Dabei funktioniert christlicher Glaube nur via eine Freundschaftsbeziehung mit Gott, der uns seinen Sohn und seine Liebe schenkt. Wie kommt die Verdunstung des christlichen Glaubens zum Ausdruck? Darin, dass die Leute den christlichen Glauben sehr individuell als Versicherung betrachten. Für den Fall einer schwierigen Zeit oder einer Not glaubt man schon noch zur Sicherheit … Trauergespräche mit Atheisten empfinde ich als sehr schwierig: Wie soll ich jemanden trösten, der an nichts glaubt? Ich spüre dann, dass ich diesem Menschen nicht weiterhelfen kann. Ich erlebe auch, dass Angehörige gar keine Trauer zeigen: Es ist nicht etwa so, dass diese Menschen den Verlust bloss verdrängen würden, sondern dass der Tod ihres Angehörigen wirklich in Ordnung ist für sie. Ich stehe einer solchen Situation machtlos gegenüber. Wird der Glauben in den Familien nicht mehr automatisch an die Kinder übertragen wie noch in den 70er-Jahren? In der Tat ist vielen Menschen der Glauben abhanden gekommen. So können sie ihn ihren Kindern auch nicht mehr weitergeben. Ob es gelingen mag, im Religionsunterricht Gegensteuer zu geben und den Kindern eine christliche Erziehung angedeihen zu lassen, die ihnen seitens der Eltern fehlt, bleibt ungewiss. In jedem Fall bleiben die Früchte klein. Die Herausforderung bleibt, mit Pfarreiarbeit die Familien erreichen zu können. War Jesus nicht ein Sämann? Was bleibt uns anderes übrig als zu säen. Sind Sie selbst ohne Zweifel am Glauben durch das Leben gekommen? Zweifel? Nun, es gab sicher auch schwierige Zeiten in meinem Leben, in denen ich dachte: Was soll das Ganze. Doch habe ich immer darauf vertraut, dass Gott mich begleitet – auch oder gerade in schweren Zeiten. Der Zölibat war jedenfalls nie ein Problem für mich: Weil ich bereits in der Kindheit den Weg zum Weltgeistlichen eingeschlagen habe, habe ich später nicht gehadert mit dem Zölibat, dem ich mich ja auch freiwillig unterzogen habe. Ich wüsste auch gar nicht, woher ich die Zeit nehmen sollte für eine Familie. Das Kloster Einsiedeln ist exemt und nicht dem Bistum Chur, sondern direkt dem Papst unterstellt. Spüren Sie als Seelsorger im Klosterdorf etwas davon, dass man hierzulande dem Bistum etwas distanzierter begegnet?

Die Pfarrei Einsiedeln, die hiesige Kirchgemeinde, ist im Unterschied zum Kloster durchaus dem Bistum Chur unterstellt. Bezüglich der Spannungen innerhalb des Bistums habe ich mich nie zu einem bestimmten Lager hinreissen lassen, ob ich nun für oder gegen den Bischof bin. Ich habe immer versucht, mich aus diesem Konflikt herauszuhalten. Ich finde, wir sind eine weltumspannende Kirche. Für diese braucht es eine gewisse Einheit mit dem Papst und auch mit dem Bischof. Ich habe auch nie verstanden, wieso sich Leute enervieren können, dass der Bischof Vitus Huonder seinen Lebensabend im Knabeninstitut Sancta Maria in Wangs verbringen will. Das ist doch seine Sache. Und da spielt doch auch keine Rolle, dass dieses Institut zur Piusbruderschaft gehört.

Was haben Sie für Jenseitsvorstellungen?

Ich habe da keine eigenen Vorstellungen, sondern lasse mich leiten von der heiligen Schrift. Im Wort von Paulus heisst es da, dass es im Jenseits Gott zu sehen gelte, wie er ist, in Gemeinschaft mit Gott. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass Jesus leiblich auferstanden ist und seine Mutter Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde. Das bedeutet nicht weniger, als dass der Leib und die Seele eine Einheit sind, die durch den Tod getrennt werden. Ohne Leib ist man unvollständig. Das unterscheidet uns von den Engeln, die als Geister keinen Leib besitzen. Ich leite davon vor allem auch eine Lehre für das Diesseits ab: Es gilt, unserem Körper Sorge zu tragen, mit unserer Leiblichkeit achtsam umzugehen.

Gibt es das Fegefeuer und die Hölle? Interessanterweise gibt es aus der heiligen Schrift wenig zu erfahren, was die Hölle und das Fegefeuer betrifft. Die meisten Vorstellungen bezüglich des Jenseits stammen hierbei aus dem Mittelalter. Mir persönlich gefällt der Begriff «Purgatorium» besser als das martialisch anmutende und furchtbare Qualen auslösende «Fegefeuer». Denn Purgatorium heisst nichts anderes als Reinigungsort, Läuterungsort: Es geht nicht darum, dass man im Fegefeuer bestraft werden soll für seine Untaten, weil eine Erziehung nach unserem Tod wenig Sinn macht. Vielmehr geht es darum, mit dem Purgatorium eine Art ausgleichende Gerechtigkeit zu schaffen. Durch unsere Sünde verursachen wir durchaus auch Leiden und Schmerz. Dies wird uns nach unserem Tod glasklar vor Augen geführt und bewirkt seinerseits einen inneren Schmerz.

Wie erklären Sie den Kindern das Purgatorium?

Ich schildere ihnen die Situation eines Bauern, der tagsüber mit Güllen beschäftigt war. Am Abend will dieser Landwirt eine Operngala besuchen. Und natürlich geht das schlecht mit seinen stinkenden Kleidern. Also müssen diese gereinigt werden und er selbst gleichsam – im Purgatorium, dem Reinigungsort. Damit der Bauer parat ist für den Auftritt in der Oper, sauber gekämmt und frisch angezogen. Haben Sie keine Angst vor dem Tod? Nicht wirklich. Es gab Wanderungen, da habe ich Todesangst gekriegt. Und gleichzeitig habe ich gespürt: Ich bin parat für den Tod. Allerdings möchte ich den lieben Gott, der ja alles in der Hand hat, darum bitten, mich zu verschonen. Und zu bedenken, dass wir uns schliesslich in Zeiten eines überhandnehmenden Priestermangels befinden (lacht).

Wohin bewegt sich die Welt?

Nicht in eine gute Richtung. Es gibt eine Globalisierung der Wirtschaftsgüter, bei der die Menschen keine Rolle spielen und keinen Wert haben. Was es bräuchte, wäre eine Globalisierung der Menschlichkeit, in der eine weltweite Zusammenarbeit wirksam würde. Was wir derzeit sehen, ist das pure Gegenteil davon: Staaten von den USA bis China operieren bedenklich und haben eine fatale Entwicklung eingeleitet.

Der Pfarrer Ugo Rossi stammt aus dem Puschlav und ist von Goldau nach Einsiedeln gewechselt: «Es ist wunderbar, dass sich die Pfarrei so nah beim Kloster Einsiedeln befindet.» Foto: Magnus Leibundgut

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