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«Einmal haben mich auf der Tour Nachtbuben verfolgt»

«Einmal haben mich auf der  Tour Nachtbuben verfolgt» «Einmal haben mich auf der  Tour Nachtbuben verfolgt»

Ein ereignisreiches Arbeitsleben neigt sich dem Ende entgegen: Mary Höhn beendet nach 35 Jahren ihre Tätigkeit als Zeitungsverträgerin. Die 63-jährige Einsiedlerin geniesst es, wieder einmal an einem Samstag ausschlafen zu können.

MAGNUS LEIBUNDGUT

35 Jahre lang haben Sie als Zeitungsverträgerin gearbeitet. Sind Sie eine geborene Lerche? Ja, in der Tat bin ich ein Morgenmensch und eher eine Lerche denn eine Eule. Um vier Uhr in der Früh habe ich meine Tour in Angriff nehmen müssen. Zum Glück musste ich mich zu dieser Herrgottsfrüh nicht auch noch voll stylen, dass Gott erbarm (lacht) …

Jetzt sagen Sie nur nicht, dass Sie in all diesen Jahren kein einziges Mal verschlafen haben … Das kam in den 35 Jahren tatsächlich sehr selten vor: Vielleicht zwei oder drei Mal. Was mit sich führte, dass ich dann halt sehr pressieren musste mit Zeitungen austragen. Statt wie normal um 6.30 Uhr wurde es dann halt 6.45 Uhr, bis ich meine Tour abschliessen konnte. Jetzt können Sie wieder getrost ausschlafen: Geniessen Sie Ihr Pensioniertendasein? Was ich wirklich sehr geniesse, ist, dass ich wieder einmal an einem Samstag in den Federn bleiben darf. Das Pensioniertendasein kommt gerade zur rechten Zeit: Aufgrund gesundheitlicher Probleme war es angebracht für mich, meine beruflichen Engagements sukzessive zu reduzieren. Was haben Sie so alles erlebt in den 35 Jahren auf Ihrem ungewöhnlichen Arbeitsweg? Im Winter bin ich bisweilen mit meinem Auto im Schnee stecken geblieben. Im Sommer war es mitunter ziemlich unheimlich, wenn ein Gewitter getobt hat. Ich habe viele Tiere gesehen auf der Tour: Rehe, Dachse, Wiesel, Marder und Füchse. Sehr eindrücklich war die Zeit des Lockdowns: Es kam mir auf den Strassen von Einsiedeln so vor wie am Anfang vor 35 Jahren: Diese Ruhe, dieser Frieden, einfach unglaublich. Es waren fast keine Autos unterwegs, dafür viel mehr Tiere als sonst.

Haben Sie Angst gehabt, als Frau in der dunklen Nacht alleine unterwegs zu sein? Ganz am Anfang schon. Deswegen hatte ich damals einen Haarspray als Waffe dabei. Und ich bin ins Karate gegangen: Das hat mir Sicherheit gegeben. Einmal haben mir Nachtbuben, die am frühen Samstagmorgen vom Ausgang nach Hause gegangen sind, die Strasse mit ihren Velos versperrt. Sie wollten mich zum Aussteigen zwingen. Doch ich lachte nur und gab ihnen zu verstehen, dass ich eher ihre Velos überfahren werde …

Dann haben Sie keinerlei gewalttätige Zwischenfälle erlebt?

Doch. Einmal ist mir angst und bange geworden. Ein arg betrunkener Mann beleidigte mich als eine, die immer mit Prospekten die Briefkästen verstopfe, und drohte mich umzubringen. Niemand im Laden reagierte, weder das Personal noch die Kunden. Ich rannte raus ins Auto und fuhr weg. Ich war schneller als er. So entkam ich. Einmal habe ich einen Einbrecher ertappt. Der hat dann die Flucht ergriffen, als er mich gesehen hat. Haben Sie auch Zeitungsabonnenten kennengelernt? Eine Frau hat mir einmal einen Kaffee gemacht: Eine schöne Überraschung in der frühen Morgenstund. An Weihnachten haben mich Kunden immer wieder einmal mit einem Geschenk erfreut. Wieso haben Sie in dieser Zeit nicht auch den Einsiedler Anzeiger ausgetragen?

Den EA haben so viele Leute abonniert: Das würde wohl das System überlasten, das würde den Rahmen einer Tour sprengen. So beschränkt sich die Auswahl auf den Tagi, die NZZ, den Blick, die Schweizer Familie und die Annabelle. Wie haben Sie den Wechsel zur Presto Presse Vertriebs AG erlebt?

Es ist halt alles immer grösser und anonymer geworden. Es gab immer mal wieder neue Verträge, die aber kaum besser geworden sind als die früheren. Ferien gibt es weniger als früher. Und neuerdings sollte man nicht mehr mit dem eigenen Auto auf Tour gehen, sondern müsste den Post-Töff benutzen.

In welcher Art und Weise haben sich die Arbeitsbedingungen in den 35 Jahren verändert? Der Lohn war früher schon so ausgelegt, dass man damit kaum reich geworden wäre (lacht). Dabei war der Auslöser, dass ich diesen Job angefangen habe, eine hohe Zahnarztrechnung. Sagen wir es so: Die Arbeitsbedingungen sind konstant schwierig geblieben. Bereits in früheren Zeiten war es mühsam, ausreichend Mitarbeiter für diesen Job zu finden. Denn Zeitungen auszutragen ist kein Zuckerschlecken. Eine lustige Anekdote hierzu: Ich hätte mal einen Mann einarbeiten sollen, der konnte kaum Deutsch. Was schwierig ist, diese Sprachbarriere, angesichts einer Fülle von Strassennamen und Briefkastenanschriften. Als er einem Kälin die Zeitung in den Briefkasten legen sollte, war es der falsche Kälin. Er meinte, das sei doch kein Problem: Dieser Kälin sei doch sicher verwandt mit dem anderen Kälin und könne ihm dann die Zeitung bringen … Um sechs Uhr wollte er beten: Denn er war Muslim, wie es sich herausstellte.

Sie arbeiten als Masseurin weiter: Welche Fähigkeiten und Talente braucht es für diesen Beruf?

Man muss offen sein für alles, Flexibilität beweisen und den Kunden ernst nehmen. Es ist eine strenge Arbeit, körperlich betrachtet. Die meisten Klienten kommen wegen Rücken- und Nackenschmerzen, weil sie den ganzen Tag im Büro vor dem PC sitzen und sich zu wenig bewegen. Einmal kam ein Mann, der wollte etwas anderes: Er hatte wohl die Begriffe Masseurin und Masseuse etwas durcheinandergebracht (lacht). Definitiv beende ich diese Arbeit im kommenden Jahr.

Wie haben Sie die Zeit des Lockdowns im Rückblick erlebt?

Als überaus dramatisch. Ich wollte von den Philippinen in die Schweiz zurückfliegen, als Manila wegen des Coronavirus abgesperrt wurde. Mit dem allerletzten Schiff konnten wir noch knapp die Hauptstadt erreichen. In Manila herrschte eine nächtliche Ausgangssperre: Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte drohte jeden zu erschiessen, der sich in der Nacht auf der Strasse zeigte. Wir schafften gerade noch einen Flug nach Singapur, wo wir fürs Erste strandeten. Insgesamt dauerte die Reise fünf Tage! Haben Sie Kurzarbeit gemacht in dieser Zeit? Nein, denn der Job des Zeitungsaustragens ging ja wie gewohnt normal weiter. Und bezüglich der Massage erhielt ich eine Erwerbsausfallsentschädigung. Zudem haben mir die Vermieter eine Monatsmiete erlassen, was ich sehr schön fand. Sie betreiben auch noch einen Duftladen: Geht es da ganz esoterisch zu und her? Ganz und gar nicht: Ich bin nicht so esoterisch ausgerichtet, sondern eher bodenständig (lacht). Düfte können den Heilungsprozess unterstützen, weil sie im Gehirn Erinnerungen abspeichern. Öle und Essenzen sind in der Lage, Energie zu geben und die Konzentration zu fördern.

An was glauben Sie selber? Ich würde mich durchaus als religiösen Menschen bezeichnen, allerdings weniger im kirchlichen Sinne: So bin ich kaum eine Gläubige, die jeden Sonntag in den Gottessdienst geht. Ich suche vielmehr Orte wie das Frauenkloster Au in Trachslau auf, um dort zu beten, Ruhe und Stille zu finden. Dieses Kloster ist ein Kraftort par excellence. Sie engagieren sich gleichsam im sozialen Bereich. Können Sie schildern, in welchen Projekten Sie mitarbeiten? Ich sammle Geld für den Verein Hilf-Philippinen, den eine Cousine vor rund zwanzig Jahren gegründet hat. Ein Cousin lebt in Romblon auf einer Insel in den Philippinen. Dort werden arme Kinder unterstützt, auf dass sie in die Schule gehen und notwendige Medizin erhalten können. Alle zwei Jahre reise ich selber nach Romblon. Wohin bewegt sich die Welt?

Der Druck in der Arbeitswelt und existenzielle Ängste nehmen stetig zu. Die Unbeschwertheit ist verloren gegangen. Bezüglich des Klosterdorfes selber bin ich gar nicht so pessimistisch: Einsiedeln erlebt regelmässig einen Fortschritt, Innovatives bricht durch. Im Dorf werden immer wieder Sachen auf die Beine gestellt. Ich finde, das Klosterdorf steht eigentlich ganz gut da in dieser Zeit

«Ich habe viele Tiere gesehen auf der Tour: Rehe, Dachse, Wiesel, Marder, Füchse.» «Der Druck in der Arbeitswelt und existenzielle Ängste nehmen stetig zu in dieser Zeit.» «Einsiedeln erlebt regelmässig einen Fortschritt. Innovatives bricht durch.»

Jede Zeit geht einmal zu Ende: Nach 35 Jahren als Zeitungsverträgerin beendet Mary Höhn 2021 gleichsam ihre Tätigkeit als Masseurin. Foto: Magnus Leibundgut

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