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Heulen für die Zusammengehörigkeit

Heulen für die  Zusammengehörigkeit Heulen für die  Zusammengehörigkeit

BRIEF AUS DEN USA

Seit die Bevölkerung von Colorado aufgrund des Coronavirus vorwiegend zu Hause bleibt, ist jeden Abend um 20 Uhr ein Geheul zu hören. Es scheint fast, dass sich die wenigen übrigbleibenden Wölfe alle in Denver versammeln und gemeinsam den Mond anheulen. Es handelt sich aber nicht um Wölfe, sondern um Menschen aller Altersgruppen.

Manche heulen, um dem Spitalpersonal für ihren Einsatz zu danken, andere heulen, um ihre Frustration über die momentane Situation auszudrücken. Manche heulen, um der Trauer freien Lauf zu lassen, andere heulen, um Stress abzubauen. Kinder heulen, weil sie es lustig finden. Erwachsene heulen, um sich auch in der Isolation mit den Mitmenschen verbunden zu fühlen.

Das Geheule begann am 27.März. Brice Maiurro und Shelsea Ochoa, ein junges Ehepaar aus Denver, ergriffen die Initiative. Sie heulten in einem Park den Mond an und kreierten eine Facebook- Seite. Eine Woche später hatten sie 420’000 Fans. Seither heulen über eine halbe Million Menschen jeden Abend um 20 Uhr vor dem Haus, hinter dem Haus oder aus dem Wohnungsfenster. Manche versammeln sich in Parks und halten dabei die soziale Distanz ein. Mittlerweile heulen Menschen in Brasilien, Mexiko und Australien. Und auch in der Schweiz soll es Leute geben, welche heulend ihre Gefühle ausdrücken. Jeder ist fähig, wie ein Wolf zu heulen. Man könne dabei nichts falsch machen, so die Initianten. Auch der Gouverneur von Colorado animiert die Bevölkerung zum täglichen Heulen. Beim Nachahmen der Wölfe handle es sich um etwas Westliches. Es passe wunderbar zu Colorado.

Am 7. April wurde der Vollmond extra laut angeheult und einige Hunde gesellten sich dazu. Seither werden auch fast jeden Abend private Feuerwerke veranstaltet. Manchmal sind etwa eine halbe Stunde vorher, rechtzeitig zum Sonnenuntergang, die Klänge von Dudelsäcken und Trommeln zu hören. Einige Feuerwehrleute mit irischen Vorfahren zelebrieren im Schottenrock einen weiteren überstandenen Tag im Kampf gegen das Virus.

Aber auch tagsüber gibt es viele Gelegenheiten, sich trotz Quarantäne und Lockdown nicht alleine zu fühlen. Viele Familien haben die Fenster und Haustüren mit Papierherzen dekoriert. Mancherorts sitzt ein Teddybär als Aufmunterung im Fenster und während der Osterwoche gab es genug Möglichkeiten, auf Eiersuche in den Fenstern in den amerikanischen Wohnquartieren zu gehen. Am Ostersonntag schritten manche Gläubige um 12 Uhr am Mittag vors Haus und verkündeten laut «er ist auferstanden».

Wer weiss, vielleicht sind nach dem Erscheinen dieses Briefes aus Amerika auch in Einsiedeln die Wölfe, respektive die Leute um 20 Uhr zu hören. Heulen wie ein westlicher Wolf funktioniert auch auf Schweizerdeutsch ganz gut. Regula Grenier *

Die Einsiedlerin Regula Grenier- Flückiger (*1973) zügelte 2007 nach Denver im amerikanischen Bundesstaat Colorado, am Fusse der Rocky Mountains. Seit 2011 wohnt sie im Nachbarort Thornton. Dort kamen 2011 Sohn Cody Frederick und 2015 Tochter Stephanie Nova zur Welt.

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