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«Wie viel ist ein Leben wert? Wie viel in welchem Abschnitt des Lebens?»

«Wie viel ist ein Leben wert?  Wie viel in welchem Abschnitt des Lebens?» «Wie viel ist ein Leben wert?  Wie viel in welchem Abschnitt des Lebens?»

Am Montag, 6. April, hat das «Bieler Tagblatt» ein ausführliches Interview mit dem Arzt Antoine Chaix veröffentlicht. Der Abdruck in unserer Zeitung erfolgt mit Genehmigung der BT-Redaktion.

TOBIAS GRADEN

Antoine Chaix ist Hausarzt in Einsiedeln, sitzt für die Schwyzer SP im Kantonsrat und war für Médecins sans frontières in Afrika. Er unterstützt die Strategie des Bundes zur Coronabekämpfung, doch er hat dem Gesundheitsminister einen kritischen Brief geschrieben. Er fordert: Nach der Epidemie müssen wir ganz grundsätzliche Fragen diskutieren, gerade in der Medizin. Antoine Chaix, Sie haben als Arzt kürzlich Bundesrat Berset einen Brief geschrieben. Was haben Sie dem Gesundheitsminister mitgeteilt?

Ich möchte vorausschicken: Es handelt sich dabei um eine persönliche Stellungnahme. Als die Massnahmenwelle anrollte, hat das in mir grosse Gefühle ausgelöst, ich wurde wütend. Ich musste für mich herausfinden, warum ich wütend wurde. Dabei geht es um drei Dinge.

Welche?

Zuvorderst: Der Bundesrat trifft Massnahmen, um der Epidemie Herr zu werden. Diese sind korrekt, das stelle ich nicht zur Diskussion. Doch das Ausmass der Kosten und Auswirkungen dieser Massnahmen im Verhältnis zu ihrem potenziellen medizinischen Nutzen liessen mich Entrüstung fühlen. Sehen Sie: Ich habe früher in der humanitären medizinischen Hilfe gewirkt, bei Médecins sans frontières (MSF). Normalerweise konnte ich für mich gut unterscheiden, was irgendwo auf der Welt passiert und was bei uns. Das waren immer zwei verschiedene Welten, die sich gar nicht unter einen Hut bringen lassen. Nun habe ich angesichts der hiesigen Ausmasse in der Coronakrise diese Abgrenzung persönlich nicht mehr geschafft.

Warum genau?

Wenn ein Patient in der Schweiz mit einem psychosomatischen Problem in meine Hausarztpraxis kommt, sage ich ihm nicht, er solle nicht so tun, in Afrika sei alles viel schlimmer. Sondern sein Problem ist für ihn genauso real wie die Probleme der Menschen in Afrika. Ich konnte mich abgrenzen.

Die schiere Dimension der hiesigen Massnahmen gegen das neuartige Coronavirus machte mir diese Abgrenzung schwierig. Mit unserer Strategie werden wir einige hundert, vielleicht einige tausend Leben retten. Wissen können wir das gar nicht, denn der Erfolg der Massnahmen lässt sich nicht messen. Wir können aber aufgrund der Zahl der Todesopfer extrapolieren, dass ein gewisser Anteil davon ohne die Massnahmen zusätzlich gestorben wäre. Hochgerechnet auf die Kosten von bislang mindestens 46 Milliarden Franken ist die Diskrepanz so enorm, dass mir angesichts dessen, was sonst in der Welt läuft, meine persönliche Abgrenzung eben nicht mehr gelang.

Was ist der zweite Punkt?

Es kristallisiert sich heraus, dass in der Schweiz die Gruppen, die man schützen will, vor allem alte Menschen sind. Der Altersdurchschnitt der Verstorbenen in der Schweiz liegt bei 82 Jahren. Man liest aber praktisch täglich auch von jungen Verstorbenen. In Frankreich etwa ist eine lebenslustige 16-Jährige verstorben. Ja, eine 16-jährige Französin. Das ist ein Effekt der globalisierten medialen Welt: Wir lernen zwar eine 16-jährige Französin kennen, haben aber keine Ahnung, ob sie Vorerkrankungen gehabt hat, was die genauen Umstände ihres Todes waren, wir wissen bloss, sie war Covidpositiv. Ein solcher Einzelfall ist gewiss tragisch, aber es lässt sich daraus nicht auf die Epidemie als Ganzes schliessen. Der Altersdurchschnitt der bisherigen Todesfälle in der Schweiz spricht eine klare Sprache. Aber wenn so viele Menschen versterben wie in Italien … (unterbricht) Italien lässt sich nicht mit der Schweiz vergleichen, es hat ein anderes Gesundheitssystem und andere soziokulturelle Verhältnisse, die möglicherweise zu mehr Engpässen führen könnten – wie zum Beispiel der meines Wissens weniger ausgeprägte palliative Gedanke.

In der Schweiz ist die medizinische Grundversorgung für die Bevölkerung sehr gut. Wir sollten uns auf unsere eigenen Zahlen und Erfahrungen stützen.

Und der dritte Punkt?

Viele alte Menschen möchten gar nicht unbedingt «gerettet» werden vor dem Coronavirus. Das ist jedenfalls meine Erfahrung, die ich mache, wenn ich in Altersheimen mit den Menschen rede. Diese Menschen sind viel lebenserfahrener. Sie wissen: Der Mensch ist gemacht zum Sterben. Gegen Ende des Lebens ist man gereift und sieht das nahende Ende viel philosophischer, gelassener. Ihnen ist es wichtiger, in der ihnen verbleibenden Zeit eine hohe Lebensqualität zu haben, als das Leben um jeden Preis zu verlängern. Es gibt nun absurde Situationen: Eine Frau im Altersheim, deren Mann verstorben ist, kann ihre Kinder nur noch per Skype sehen. Sie sagt mir: Das ist keine Lebensqualität für mich, das ist für mich entscheidender, als wenn ich noch ein paar Monate oder zwei Jahre lebe. Kurz: Ich glaube, die Zielbevölkerung ist bei der ganzen Strategie zu wenig berücksichtigt worden. Sie kritisieren also die Strategie?

Nein. Die Strategie ist nicht abwegig, denn sie dient dazu, Engpässe bei der Behandlung von Patienten zu vermeiden, auch von jüngeren. Aber sie ist einseitig. Oberstes Ziel der Strategie ist die Abflachung der Ansteckungskurve, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das ist doch sinnvoll? Absolut. Aber zu welchem Preis? Das ist die grosse Frage. Ich meine damit nicht nur den finanziellen Preis, sondern in einer Gesamtbetrachtung.

Die Strategie dient auch dazu, die Triage zu vermeiden – also den ultimativen Entscheid der Ärzte, wessen Leben gerettet wird und wessen nicht. Ein solcher Entscheid ist doch schrecklich. Absolut. Die Triage ist der schwierigste Entscheid in der ganzen medizinischen Handlung. Wir versuchen derzeit, diesen mit allen Mitteln zu vermeiden. Aus meiner Sicht wäre dies ein Moment, um über die Vorstellung der Allmacht der Medizin in der westlichen Welt nachzudenken. Wollen wir absolut alle retten, die wir können, sogar jene, die dies gar nicht wollen? Was ist im Alter noch sinnvoll? Und vor allem: Was ist wirklich im Sinn der alten Menschen, die geschützt werden sollen?

Es geht jedoch nicht nur um die alten Menschen. Es gibt junge Menschen mit Vorerkrankungen, die ganz sicher geschützt werden wollen und sollen. Absolut. Wegen ihnen – und auch wegen anderer junger Patienten – gilt es, Engpässe zu vermeiden. Die Frage ist gleichwohl: Ist die gewählte Strategie der einzige Weg, um dies zu erreichen? In jenen Altersheimen, in denen ich arbeite, wird versucht, Menschen mit einer Covid-Erkrankung nach bestem Wissen und Gewissen der palliativen Medizin zu begleiten.

Das ist ein gangbarer Weg, wie er auch bei normalen Lungenentzündungen begangen wird. Doch seitens Angehöriger und Medien herrscht derzeit ein enormer Druck – man darf sozusagen nicht an Covid-19 sterben. Sie kritisieren, dass im heutigen Gesundheitssystem allgemein die Lebensquantität das oberste Ziel ist, nicht die Lebensqualität. Aber wir können uns doch glücklich schätzen, dass wir diese Möglichkeit überhaupt haben.

«Kritisieren» ist ein zu harter Ausdruck – ich möchte Gedanken in den Raum stellen. Ja, wir haben wahnsinniges Glück, all die medizinischen Möglichkeiten zu haben. Wir sind kaum je mit der Situation konfrontiert, dass man aufgrund äusserer Umstände auch mal nicht alles machen kann; wir sind also wahnsinnig privilegiert. Nun sind wir zum ersten Mal in der Situation, dass diese Lage eintreten könnte. Es zu akzeptieren, dass auch wir in der Schweiz vielleicht nicht immer alles machen können, fällt uns enorm schwer. Ihre Gedanken mögen im Grundsatz plausibel sein – der Einzelfall ist gleichwohl sehr brutal. Was sagen Sie den Angehörigen, deren Eltern man am Coronavirus sterben liesse? Wohlverstanden: Wir haben aktuell kaum eine andere Wahl als jene, die mit der offiziellen Strategie vorgespurt ist. Für eine andere wäre unsere Gesellschaft schlicht noch nicht bereit.

Aber wir müssen uns längerfristig überlegen: Was soll unsere Medizin machen? Wo sind Massnahmen noch sinnvoll, wo nicht mehr? Und da geht es eben vor allem um die Lebensqualität. Wir sind nun vermehrt mit Situationen konfrontiert, die ich schon vor Covid- 19 fragwürdig fand, etwa in der Onkologie. Ich habe gerade den Fall eines über 80-Jährigen mit einem Leberkarzinom. Das hat eine schlechte Prognose. Er gerät nun in die ganze Maschinerie der Krebsbehandlung. Aus ärztlicher Sicht müssen wir uns fragen, ob wir damit dem Patienten tatsächlich Gutes tun. Und wir sollten ihn bei diesem Entscheid aktiv beiziehen und ihm zuhören. Die Anreize im Gesundheitssystem sind aber anders gesetzt – Geld wird dann verdient, wenn eine Leistung erbracht werden kann. Ja. Vielleicht gilt es, dies zu hinterfragen.

Daraus folgen allerdings ganz schwierige Fragestellungen. Wollen Sie etwa eine Altersgrenze ziehen? Mit 82 gibt es keine Behandlung mehr, mit 75 aber schon? Es gibt Länder – etwa England – die für Allgemeinversicherte solche Kriterien kennen, aus wirtschaftlichen Gründen. In der Schweiz sind wir in der schönen Lage, dass wir die Möglichkeit haben, besser auf die Patienten zu hören. Wenn ein 82-Jähriger unbedingt die Behandlung haben will, dann soll er sie erhalten. Sein Leben ist nicht weniger wert als das eines Jüngeren. Aber man soll auch auf jene alten Menschen hören, die dies gar nicht wollen. Ich erlebe es oft, dass die alten Menschen sagen: Ich habe mein Leben gelebt, ich brauche das nicht mehr. Aber die jüngere Generation setzt Druck auf, sie hat diese Weisheit noch nicht erreicht. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sich die alten Menschen aus falsch verstandener Bescheidenheit nicht getrauen könnten, eine Behandlung zu wünschen. Darum ist es entscheidend, die Patienten gut zu kennen. Ich bin Hausarzt, ich bin nirgends Spezialist, sondern ein Weichensteller. Aber ich kenne meine Patienten und kann vielleicht besser mit ihnen zusammen ihre tatsächlichen Haltungen und Wünsche herausfinden. Da hat die Hausarztmedizin eine Funktion, die wohl kein Spezialist in gleicher Weise übernehmen kann.

Haben wir allgemein ein allzu verkrampftes Verhältnis zum Tod – und damit auch zum Leben? Eindeutig. Ich kenne Menschen, die erst in meinem Alter beim Tod ihrer Eltern erstmals einen toten Menschen sehen und sich mit dem Tod auseinandersetzen. Ich habe auch das andere Extrem erlebt, in Ländern, wo der Tod allgegenwärtig ist. Ich habe in Sierra Leone ein Ernährungszentrum aufgebaut. Es starb ein kleines Kind. Wir haben die Mutter mit diesem Kind mit dem Auto in ihr Dorf zurückgebracht, es wäre für sie sonst ein Tagesmarsch gewesen. Wir sind zum Vater und zum Dorfältesten gegangen und haben erklärt, wie wir versucht hatten, das Leben des Kindes zu retten. Der Vater und die Mutter haben uns schräg angeschaut und sich bedankt, dass wir einen Umweg gemacht haben, um sie ins Dorf zu bringen – das war für sie bemerkenswerter als unsere in diesem Fall erfolglosen medizinischen Handlungen. Wir können doch froh sein, ist dies bei uns nicht so!

Absolut, aber wir könnten uns trotzdem mal in einem gedanklichen Schritt zurückbesinnen. Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ist nicht negativ – es bedeutet auch, das Leben bewusster zu geniessen. Haben Sie bei MSF auch Triage- Entscheide treffen müssen? Leider viele, immer wieder. Ich war 1998 bei der Cholera-Epidemie in Moçambique. In unserem Behandlungsteam war auch ein Epidemiologe. Wir haben aufgrund der Todesfälle berechnet, wie sich die Epidemie mutmasslich ausbreiten wird, welche Dörfer wie stark betroffen sein werden. Wir hatten beschränkte Mittel und konnten nicht an zwei Orten gleichzeitig eingreifen. Wir mussten uns für einen Ort entscheiden und am anderen die Epidemie durchgehen lassen, im Wissen, dass es dort Todesopfer geben würde, und zwar in der jungen, arbeitenden Bevölkerung.

Wie trifft man solche Entscheide?

Durch Abwägen der Möglichkeiten. Bei einem humanitären Einsatz muss einem bewusst sein: Wir können nicht alle retten. Wer damit nicht umgehen kann, sollte gar nicht an einem solchen Einsatz teilnehmen. Ich war mit meiner Frau in Sierra Leone, kurz nach dem ganz brutalen Bürgerkrieg. Sie kam nach einem Busunfall in den Notfall, der voll war mit 20 schwerverletzten Menschen. Sie musste zwei, drei triagieren, um sie zu operieren, nicht mehr. In diesem Raum mit 20 schreienden Menschen musste sie auswählen. Das verfolgt einen lange. Fiel es ihnen leicht, solche Entscheide zu fällen?

Nie.

Hilft es, wenn man sich sagen kann: Die Verhältnisse sind halt so, ich kann sie nicht ändern? Nein. Doch man sagt sich: Ich kann immerhin zwei Menschen retten. Wenn ich nicht da wäre, könnte man niemanden retten. Auch beim Cholera-Beispiel: Ich habe nicht 20, 30 Menschen im einen Dorf nicht retten können – sondern ich konnte 40, 50 in einem anderen Dorf retten. Man muss das ins Positive wenden, sonst hält man es nicht aus. Ich war später im Vorstand von MSF, dort galt das gleiche, aber auf höherer Stufe: Aus Gründen der Sicherheit oder der Finanzen mussten wir uns aus ganzen Landstrichen zurückziehen und diese sich selbst überlassen. Was hat das mit Ihnen gemacht, solche Entscheide gefällt zu haben?

Wahrscheinlich eben, dass ich nun mit der Situation Mühe habe. Es ist mein persönliches Problem: Ich habe Mühe zu akzeptieren, dass ein Menschenleben anderswo viel weniger wert ist. Das schreiben Sie in Ihrem Brief: Dass ein Menschenleben in Europa viel mehr wert ist als in Afrika. Ich stelle es fest. Das ist ein Fakt. Angenommen, wir retten mit 46 Milliarden Franken 1000 Menschenleben in der Schweiz. Das sind 46 Millionen Franken pro Menschenleben. Das ist sehr viel Geld … Welcher Betrag wäre denn vernünftig aus Ihrer Sicht? Das kann ich nicht sagen. Ich kann nicht sagen, bei welchem Bereich ich keine Mühe hätte damit. Bislang musste ich nur für mein eigenes Leben solche Fragen beantworten. Meine Kinder betreiben Springreiten als Hobby, das ist sehr teuer, eigentlich ja gestört. Man könnte mit diesem Geld so viel anderes machen. Aber ich lebe damit und freue mich daran. Ob das ethisch vertretbar ist, muss ich mit mir selber ausmachen.

Man könnte es auch andersrum sehen: Unsere hohe Wertschätzung für das Menschenleben zeigt sich daran, dass wir bereit sind, 46 Millionen Franken auszugeben für eines.

Meine Empfindung ist: Es ist überrissen. Aber mir ist natürlich klar, dass sich damit ganz heikle Fragen stellen: Wie viel ist ein Leben wert? Wie viel in welchem Abschnitt des Lebens? Sind die Alten weniger wert? Natürlich nicht – umso stossender finde ich es, dass man zu wenig auf die alten Menschen selber hört. Würden wir noch mehr Geld aufwenden, wenn die Epidemie die 40-Jährigen träfe? Ich kann nur über meine eigenen Empfindungen sprechen, doch ich finde, im Nachgang zur Epidemie muss eine Grundsatzdiskussion über solche Fragen erfolgen.

Finden Sie denn, wir sollten uns halt mal demütig der Seuche hingeben?

(überlegt) Sagen wir es so: So, wie wir als Gesellschaft derzeit ticken, haben wir keine andere Wahl, als die Epidemie so anzugehen, wie wir dies jetzt tun. Noch einmal: Ich übe nicht Kritik am Bundesrat. Wir hatten eine äusserst schwierige Ausgangslage mit der Welle im Tessin. Doch wir müssen dieses Thema aufnehmen, um uns Grundsätzliches zu überlegen, gerade in der Medizin.

Wie überlegen wir das? Wer bestimmt den vernünftigen Preis?

Wir sind als Gesellschaft reich genug, dass dies das Individuum bestimmen können soll. Dass wir nicht über das Individuum hinweg bestimmen müssen, wie fest es geschützt werden soll. Vereinfacht gesagt: Wer zur Risikogruppe gehört, soll selber entscheiden können, wie stark er geschützt werden will.

Nun geraten wir auf ganz heikles Terrain – solche Entscheide zu treffen, ist auch eine Frage der Bildung. Und Menschen können auch dazulernen und ihre Haltung ändern. Meine persönliche Erfahrung ist, dass die Menschen meistens sehr kohärent sind, wenn sie ihre Entscheide in Ruhe und ohne Druck von Angehörigen treffen können. Es gibt natürlich auch andere Fälle. Ich hatte eine Patientin, die ständig sagte, sie möchte eigentlich gehen. Als sie eine Lungenentzündung hatte, wollten wir sie darum palliativ begleiten. Doch da wollte sie plötzlich unbedingt ins Spital. Sie überlebte und sagte danach von Neuem, sie wolle eigentlich gehen … Aber es war zu diesem Zeitpunkt ihr Wille und somit der richtige Entscheid. Wie würde denn Ihre Coronapolitik aussehen, wenn Sie ganz alleine entscheiden könnten? Ich beneide niemanden, der solche Entscheide treffen muss. Vieles ist sehr gut gemacht worden, etwa Aufklärung und Information. Ich hätte jedoch den Risikopatienten mehr Eigenverantwortung und Spielraum belassen beim Entscheid, ob sie geschützt werden wollen oder nicht. Gezielterer Schutz für jene, die ihn brauchen, wäre in meinen Augen wohl besser für alle. Damit nähmen Sie in Kauf, dass es mehr Todesopfer geben könnte.

Ja. Aber: Man darf sterben. Pointiert gesagt dürfen derzeit gewisse Leute quasi nicht sterben. Menschen in Altersheimen haben gar keine Wahl. Ich glaube, wir hätten die Möglichkeiten, stärker auf Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zu setzen. Derzeit leiden andere Patienten, weil die medizinische Grundversorgung heruntergefahren ist. Wie sieht dies in Ihrer Praxis aus?

Ich habe meine Praxis auch heruntergefahren, ich stelle mich ja nicht quer. Wir sind in einer Krisensituation, das ist wie bei MSF, da muss eine Organisation Topdown laufen, daran gibt es nichts zu rütteln. Als Arzt trage ich Verantwortung und ziehe am gleichen Strick. In meiner Praxis sehe ich also derzeit vier bis fünf Patienten pro Tag statt wie üblicherweise 30. Und ich vermute, dass es einige gibt, die besser in die Praxis kämen, es aber nicht wagen. Das sind Kollateralschäden, welche die Strategie mit sich bringt. Gleich wie die häusliche Gewalt, die zunimmt, oder die psychosozialen Folgen wegen der Auswirkungen der Krise.

Eine Grundsatzdiskussion müsste aber international geführt werden. Derzeit fahren praktisch alle westlichen Länder eine ähnliche Linie. Ich staune, dass man nicht mehr Alternativmodelle sieht. Es ist aber auch klar, dass die Schweiz nicht einen kompletten Sonderzug wählen kann. Immerhin aber hat sie etwa keine komplette Ausgangssperre verhängt, das ist bemerkenswert.

Dies sogar gegen den mutmasslichen Willen der Bevölkerungsmehrheit.

Ja. Hierzu kommt der Aspekt der Angstmacherei. Das ist ein Thema für sich. Man hat Bilder gesehen aus Bergamo, wo Armeefahrzeuge nachts Leichen abtransportieren. Das sind apokalyptische Bilder, aber sie sind real. Bilder können politisch verwendet werden, im weitesten Sinne. Nochmal: Das Tessin hatte praktisch keine andere Wahl, schweizweit wurden die Massnahmen etwas variiert, ich hoffe, das ist auch bei den nächsten Schritten so. Die Bilder zeigen die Realität.

Sie zeigen einen Ausschnitt der Realität. Ich war im Jahr 2000 in Moçambique, als dort Überschwemmungen waren und sonst nicht viel auf der Welt passierte. Da kamen Kameracrews in Helikoptern angeflogen, um zu filmen, wie eine Frau auf einem Baum gebärt – das ist natürlich ein starkes Bild. Es gab etwa 700 Todesopfer. Zwei Jahre zuvor bei der Cholera- Epidemie starben viel mehr Menschen, es hat niemanden interessiert. Es gab keine interessanten Bilder dazu. Welche Bilder kritisieren Sie denn? Mir ist zum Beispiel eines in einer Gratiszeitung in Erinnerung, das ein geschlossenes Museum in Norditalien zeigte. Personal im Ebola-Look, mit komplett geschlossenen Anzügen, waren am Desinfizieren. Das ist ein absoluter Irrsinn. Das Bild verbreitet die Botschaft, wir hätten es mit einem unglaublich aggressiven Virus zu tun, wie bei Ebola – doch dort sterben 30 bis 90 Prozent der Betroffenen. In einem geschlossenen Museum in der Corona-Epidemie aber passiert rein gar nichts. Nach ein paar Tagen stirbt das Virus von selber ab.

Glauben Sie denn, man hat das Museum darum desinfiziert, um ein solches Bild zu bekommen? Das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht hat man es wider besseres Wissen getan. Dass man das Museum geschlossen hat, ist sicher richtig. Dass man es aber in einer solchen Montur desinfizieren muss, stelle ich in Frage. Vermuten Sie denn eine politische Agenda hinter Massnahmen, die unter dem Aspekt der Seuchenbekämpfung gar nicht zwingend notwendig sind? Nein, jedenfalls in der Schweiz sicher nicht. Ich finde den Umgang mit der Epidemie in der Schweiz eindrücklich und es ist positiv, wie die Menschen mitmachen. Jene Fragen, die ich stelle, sind nicht direkt politischer Art. Mir geht es um grundsätzliche Fragen zum Umgang mit Leben und Tod. Sie haben in Ihrem Brief geschrieben, Sie hätten sich mehr Rücksicht auf die Wirtschaft gewünscht. Eine solche Aussage erstaunt für einen Arzt, der für die SP im Schwyzer Kantonsrat sitzt. Ich hätte mir eben gezieltere Massnahmen für die Vulnerablen gewünscht. Dann wäre womöglich die riesige Kelle, mit der wir derzeit anrühren, nicht nötig gewesen. Denn letztendlich erlauben uns unsere Wirtschaft und unser damit verbundener Reichtum unter anderem unseren hohen medizinischen Standard. Wenn die Wirtschaft bachab geht, wird an vielen Orten gespart werden müssen, wo ich als Linker lieber nicht sparen möchte. Wird Ihre Haltung innerhalb der Ärzteschaft geteilt? Das weiss ich nicht genau. Die Ärzteschaft hilft jedenfalls mit bei den Massnahmen, und das ist auch richtig so. Jürg Schlup, der Präsident der FMH, teilt aber meine Ansicht, dass wir nach der Krise über einige Themen grundsätzlich diskutieren müssen. Hat Ihnen Bundesrat Berset eigentlich geantwortet? Bislang nicht. Aber das nehme ich ihm nicht übel, er hat derzeit wahrlich anderes zu tun.

Antoine Chaix: «Ich habe Mühe zu akzeptieren, dass ein Menschenleben anderswo viel weniger wert ist.» Foto: Mattia Coda

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