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Schwyz gehört zu den klarsten Profiteuren des Ständemehrs

Beim Ständemehr hat eine Stimme aus dem Kanton Schwyz viel mehr Gewicht als eine aus den grossen Kantonen. Ist das noch zeitgemäss und gerecht?

CARLO SCHULER

Etwas mehr als 106’000 Stimmberechtigte gibt es aktuell im Kanton Schwyz. Rund 950’000 sind es im Kanton Zürich. Wenn es bei Abstimmungen um die Standesstimmen geht, so zählen aber beide Kantone gleich viel: Beide haben je eine Standesstimme. Und beiden Kantonen stehen je zwei Ständeräte zu. Eine Stimme aus dem Kanton Schwyz hat somit in beiden Fällen – wenn man also von der Anzahl Stimmberechtigter ausgeht – fast neunmal mehr Gewicht als eine Stimme aus dem Kanton Zürich.

Ist das gerecht? Die Frage beschäftigt die Politik spätestens seit der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative (KVI): Diese wurde vom Schweizer Volk zwar angenommen, scheiterte aber am Ständemehr.

Seit der Gründung des modernen Bundesstaates 1848 gab es insgesamt zehn Abstimmungen, bei denen das Volksmehr durch das Ständemehr ausgebremst wurde. Immerhin die Hälfte dieser Abstimmungen fallen auf die letzten knapp vierzig Jahre.

Kontroverse Beurteilung Der Kanton Schwyz war in zehn von zehn Fällen bei den Nein-Sagern und somit auf der Seite der Profiteure des Ständemehrs. Nur noch die beiden Appenzell und der Aargau kommen auf die gleiche «Bilanz». Zum Vergleich: Der Kanton Zürich stand bei all diesen zehn Vorlagen immer auf der Verliererseite. Nutzniesser des Ständemehrs sind in erster Linie die eher bevölkerungsschwachen Landkantone der Zentral- und Ostschweiz.

Alex Kuprecht (SVP), der vor wenigen Tagen zum neuen Präsidenten des Ständerates gewählt wurde, erklärt: «Ich bin ein klarer Befürworter des Ständemehrs.» Dieses sei ein Regulativ zwischen den bevölkerungsmässig grossen und den kleinen Kantonen. Dieses Regulativ verhindere, dass die Menschen in den kleinen Kantonen in zentralen Fragen von Verfassungsbestimmungen überstimmt würden. «Eine Abschaffung oder Korrektur sehe ich überhaupt nicht und ich würde mich vehement dagegen wehren.» Der Schwyzer SP-Präsident Andreas Marty sagt, mit dem Ständemehr könne ein kleiner Teil der Bevölkerung aus den ländlich konservativen Kantonen Reformvorlagen bodigen: «Das ist demokratiepolitisch bedenklich. » Die Hürden für Veränderungen seien auch ohne Ständemehr schon hoch. Dabei gebe es neben den Stadt- und Landkantonen auch Unterschiede unter den Sprachregionen, die mit dem Ständemehr nicht abgebildet würden. Dies könne zu einer Gefährdung des Zusammenhalts innerhalb der Schweiz führen. «Ich orte also ganz klar einen Reformbedarf», so Andreas Marty.

«Das Ständemehr ist auch eine Art Korrektiv» Urs Bieri, Politikwissenschaftler und Co-Leiter des Forschungsinstitutes gfs Bern, sagt: «Die Absicht des Ständemehrs ist historisch klar und für die Gründung der modernen Schweiz zentral: Die Schweiz löste sich aus dem Bürgerkrieg zwischen den minderheitlichen katholisch-konservativen und mehrheitlichen liberalen Kantonen durch die Gründung des modernen Bundesstaates. » Die katholisch-konservativen Kantone hätten diese grösstwahrscheinlich nicht kampflos mitgetragen, wenn man diesen wichtigen Minderheitenschutz nicht als Gegensteuerung eingebaut hätte. Ein Minderheitenschutz sei es noch heute: Das Ständemehr schütze die aufgrund der föderalen Strukturen wichtigste Minderheit, den einzelnen Kanton, davor, permanent von den grössten sechs Kantonen in der Schweiz überstimmt zu werden. Urs Bieri ergänzt: «Zudem finde ich nach wie vor zentral: In unserem System könnte ich ohne Ständemehr mit einem Volksmehr von 50 Prozent und einer Stimme die Verfassung ändern. Das Ständemehr ist damit auch eine Art Korrektiv für verfassungsrechtliche Anliegen, die maximal knappe Mehrheiten in der Bevölkerung hinter sich haben.» Zweifellos sei es aber so, dass man dies auch anders, vielleicht moderner regeln könnte. Es gebe in der Politikwissenschaft verschiedene Überlegungen, die in diese Richtung zielten.

«Kleine Kantone verteidigen ihre Privilegien» Vehement für eine Abschaffung des Ständemehrs spricht sich der frühere Zuger Nationalrat (Grüne-Alternative) und Historiker Jo Lang aus. «Das Ständemehr ist historisch überholt», titelte Jo Lang nach der KVI-Abstimmung bei Journal 21. Es sei höchste Zeit, dieses Instrument zu hinterfragen. Für die neuen Minderheiten in der Schweiz biete das Ständemehr nicht Schutz, sondern Gefahr. Zu diesen neuen Minderheiten zählt Lang aktuell vorab die französischsprachigen Kantone.

Jakob Tanner, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Zürich, weist auf Anfrage darauf hin, dass man bei der Einführung des Ständemehrs sowohl 1848 wie 1874 primär an innerschweizerische Auseinandersetzungen und an die Rechte der «souveränen» Kantone dachte. Im Kulturkampf jener Jahre sei es den katholisch-konservativen Kantonen darum gegangen, sich gegen den freisinnigen Machtanspruch durchzusetzen.

Im Vergleich dazu sei die Ausgangslage heute bei einer Abstimmung wie der KVI sicher eine andere. Trotzdem gebe es unter den «Landkantonen» auch heute noch verbindende Interessen. Dies habe man auch bei der KVI-Abstimmung gesehen. Gerade im Bereich von Themen wie «Steuern, Holdings und Domizilgesellschaften » gebe es unter diesen Kantonen wohl durchaus eine Art gemeinsames Bewusstsein.

«Schwyz ist eher ein Kandidat für die Steuerkonkurrenz» «Viele dieser Kantone haben sich auf die internationale Steuerkonkurrenz eingelassen und sind – wie der Kanton Zug – Sitz von internationalen Grosskonzernen, welche die KVI im Visier hatte», meint Tanner: Auch Glarus, Nid- und Obwalden gehörten dazu. Diese Kantone seien oft weniger industrialisiert als der Rest des Landes.

«Wenn es jedoch um das Unternehmensdomizil geht, sind sie oft sehr stark – und sie verteidigen diese Privilegien, wie die Abstimmungskarte der KVI deutlich zeigte», konstatiert Tanner. Allerdings müsse man unter den Landkantonen differenzieren: «Schwyz ist eher ein Kandidat für die Steuerkonkurrenz – und der Kanton hat damit nicht wirklich gute Erfahrungen gemacht. »

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