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«Wir wollen unsere Theatergäste im Herzen berühren»

«Wir wollen unsere Theatergäste  im Herzen berühren» «Wir wollen unsere Theatergäste  im Herzen berühren»

Livio Andreina darf heuer als Regisseur das Welt-theater auf dem Einsiedler Klosterplatz aufführen – zusammen mit dem Autor Lukas Bärfuss: «Was hier entsteht, ist einmalig in der Schweiz, dass so viele Leute gemeinsam an einem künstlerischen Prozess teilnehmen können.»

Wie sind Sie dazu gekommen, die Regie beim Welttheater Einsiedeln zu übernehmen – wie die Jungfrau zum Kind? Nicht gerade wie die Jungfrau zum Kind (lacht): Der Vorstand der Welttheatergesellschaft lädt alle sieben Jahre einen Autor und einen Regisseur ein, eine Neufassung nach Calderóns Stück zu schreiben. Nachdem ich schon einige Produktionen mit der Theatergruppe Chärnehus realisiert hat-te, konnte ich mir gut vorstellen, einmal das Welttheater zu inszenieren, am liebsten mit Lukas Bärfuss, mit dem ich schon seit Jahren zusammenarbeite. Wir haben uns für die-sen Auftrag beworben und ihn erhalten, was uns sehr gefreut hat. Wie hat sich das Stück seit der Corona-Pandemie verändert? Im März 2020 hat Corona unsere erste Probenarbeit abgebrochen. Seitdem ist in der Welt viel passiert, in Europa herrscht seit mehr als zwei Jahren Krieg, Klima- und Migrationskrisen nehmen zu, im Nahen Osten sind die Konflikte eskaliert … Darauf haben wir in unserem Stück natürlich Bezug genommen. Geblieben ist aber der Kern unserer Erzählung, dass nämlich Emanuela, die Heldin in unserer Inszenierung, alle sieben Rollen aus Calderóns Stück alleine spielen muss. Wie hat sich Ihre Regiearbeit

zwischen 2020 und 2024 verändert?

Meine Regiearbeit und meine Haltung zum Theater haben sich nicht verändert. Mein Ziel ist es nach wie vor, ein generationsübergreifendes Projekt zu realisieren, ein Kunstwerk, das sinn- und gemeinschaftsstiftend ist und das ganze Dorf und auch die Welt in seinen Bann zieht. Mit welchen Schwierigkeiten hatten Sie zu kämpfen? Die Dimensionen: Sie sind einzigartig und auf allen Ebenen eine grosse Herausforderung. Das Ensemble: 500 Menschen, die mitwirken – davon rund die Hälfte auf der Bühne. Der Spiel-ort: Es ist der zweitgrösste Klosterplatz in Europa! Unsere Theatergäste: 36 Aufführungen, eine Tribüne mit 2000 Sitzplätzen. Niemand von der künstlerischen Leitung konnte dies jemals üben. Was kam überraschend und unerwartet auf Sie zu? Die unglaubliche Spielfreude und das Engagement von allen Mitwirkenden: Was hier entsteht, ist einmalig in der Schweiz, dass so viele Leute gemeinsam an einem künstlerischen Prozess teilnehmen können. Es war noch nie so wichtig wie in der heutigen Zeit, zusammen an einem Projekt zu arbeiten. Es ist ein soziales Projekt, das weit über das Theaterspielen hinaus geht und das ganze Dorf miteinbezieht. Wie ist es Ihnen gelungen, ausreichend Leute für dieses grosse Schauspiel zu finden?

Gemeinsam mit dem Vorstand haben wir am Welttheatertag das Stück, die Musik, das Kostüm- und Bühnenraumkonzept und die künstlerische Leitung vorgestellt. Es ist wunderbar, dass 500 Menschen bereit sind, mitzumachen. Das ist nicht selbstverständlich. Seit Corona ist es schwieriger geworden, die Leute zum Theaterspielen und überhaupt für Arbeiten, die über uns hinauswachsen, zu motivieren. Umso mehr freut es mich, dass wir nun ein grosses, engagiertes Spielvolk, wie es in Einsiedeln heisst, gewinnen konnten. Was ist das Spezielle an der Aufführung des Welttheaters 2024? Das Welttheater wird 100-jährig! Es ist für uns grossartig, dass wir nach hundert Jahren immer noch zu diesem Jubiläum an den existenziellen Lebensfragen des Menschen arbeiten, sie über ein Theaterstück vertiefen und Calderòns grosses Thema («Welche Rolle ist deine Rolle?») auch mit unserem Publikum teilen können.

Gibt es auch negative Stimmen?

Ja, diese gibt es auch, die gibt es immer. Immer dann, wenn man sich aussetzt – mit einem Theaterstück zum Beispiel. Wichtig ist mir jedoch, dass ich mit meinem Ensemble, mit der künstlerischen Leitung, mit dem Vorstand und mit allen, die sich dafür entschieden haben, am Welt-theater 2024 mitzumachen, eine gute und festliche Theaterzeit verbringen kann. Das zählt letztlich und führt zu einem tollen Theaterereignis, zu dem wir gerne unsere Gäste einladen können. Vor wie vielen Jahren haben Sie mit dem Schreiben des Welttheaters begonnen?

Vor bald acht Jahren stand ich mit Lukas Bärfuss das erste Mal auf dem Klosterplatz. Wir waren überwältigt und dachten, das ist eine unmögliche Aufgabe. Schliesslich hat uns genau dieses «Unmögliche» motiviert, die Herausforderung anzunehmen. Seitdem arbeiten wir am Welttheater – gemeinsam mit der Kostüm- und Bühnenbildnerin Anna Maria Glaudemans, dem Choreografen Graham Smith und der Dramaturgin Judith Gerstenberg. Aus welchen Gründen sollte man es keinesfalls verpassen, das Welttheater Einsiedeln in diesem Jahr zu besuchen? Wir laden zu einem höchst farbigen, musikalischen, spielfreudigen Theaterabend ein: Ein Spektakel für Aug und Ohr. Zu einem Stück, das sich gleichzeitig mit unseren tiefsten Fragen auseinandersetzt: Gibt es Gott? An was glaube ich? Für was bist du bereit zu sterben? Wir wollen unsere Theatergäste im Herzen berühren und sie einladen zum Gespräch, zu einem Theaterfest und vor allem: Wir wollen zusammen ein Jubiläum feiern. Wie hat sich der Tod von Bruno Amstad auf das Welttheater ausgewirkt? Mit Bruno Amstads Tod ist ein wunderbarer, liebevoller Mensch in die andere Welt gegangen. Zurückgelassen hat er für uns die Musik für das Welttheater 2024, eine grossartige und bildstarke Musik, die direkt zum Herzen geht. Kurz vor seinem Tod hat er seine Welttheatermusik meinen musikalischen Leiterinnen und Leitern übergeben. Vielleicht in Vorahnung? Wir wissen es nicht. Aber seine Musik wird auf unserer Welttheaterbühne weiterleben, und so bleibt uns Bruno Amstad durch sein letztes Werk in Erinnerung, was mich riesig freut!

Gibt es Gott?

Ich weiss es nicht. Was ich weiss: Es gibt immer etwas, das grösser ist als ich, etwas, das mehr ist als ich. Eines davon ist für mich die Kunst, die Theaterkunst. Durch sie wird es möglich, diesem Mehr-als-ich näher zu kommen und es zu leben.

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