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«Das Klosterdorf entwickelt sich zunehmend zur Schlafstadt»

«Das Klosterdorf entwickelt sich  zunehmend zur Schlafstadt» «Das Klosterdorf entwickelt sich  zunehmend zur Schlafstadt»

Heute Mittwoch hat Wolfgang Burri aus Einsiedeln seinen letzten Arbeitstag als Agenturpartner bei Valora: In den vergangenen fünf Jahren hat der 61-jährige Geschäftsführer die drei Kioske am Bahnhofplatz, im Migros Center und an der Hauptstrasse im Klosterdorf betrieben.

Was hat Sie ausgerechnet ins Klosterdorf verschlagen?

Ich habe bis im Jahr 2016 in Zürich gelebt und damals Ausschau gehalten nach einer günstigen, grösseren Wohnung. Diese habe ich schliesslich in Zeiten der Wohnungsnot in Einsiedeln an der Schwanenstrasse gefunden. Ursprünglich stamme ich aus St. Gallen. Im Jahr 2018 habe ich auf ein Inserat von Valora reagiert, in dem ab dem 1. April 2019 ein Agenturpartner für die drei Kioske im Klosterdorf gesucht worden ist. Wie haben Sie die Zeit als Geschäftsführer der drei Kioske erlebt?

Es war eine überaus turbulente Zeit in Einsiedeln. Angefangen hat alles noch normal. Doch Anfang des Jahres 2020 hat die Corona-Pandemie Einzug gehalten, was ja bekanntlich die ganze Gesellschaft gehörig durcheinanderwirbelte. Wir hatten wie überall in den Läden Maskenpflicht – und einige Kunden wollten sich partout nicht daran halten. So mussten wir denn bei einigen renitenten Leuten, die sich weigerten, die Maske anzuziehen, die Polizei rufen. Andererseits erlebte das Verkaufspersonal am Ende des Jahres 2020 just wegen des Virus eine spürbare Entlastung: Dank Corona konnten wir die Läden abends früher schliessen – und an den Wochenenden waren die Kioske ganz geschlossen. Wie schön war es doch, als unser gesamtes Personal an Weihnachten 2020 frei hatte!

Wie sind Sie im Klosterdorf aufgenommen worden? Berufsmässig ist mir der Start in Einsiedeln von Beginn an gelungen: Wir haben die drei Kioske sehr erfolgreich führen können und viele positive Impulse in unserer täglichen Arbeit in den Läden bekommen. Als Zugezogener ist mir aufgefallen, dass sich das Klosterdorf zunehmend zur Schlafstadt entwickelt: Viele Leute wohnen in Einsiedeln, arbeiten aber ausserhalb. Bei mir war es gerade umgekehrt: Ich habe im Klosterdorf gearbeitet, bin aber für meine Freizeitbeschäftigungen vielfach weggefahren. Ich habe es kaum geschafft, in Einsiedeln Fuss zu fassen, hier heimisch zu werden, hier wirklich zu leben. Wieso bleiben Zugezogene oftmals fremd in Einsiedeln? Als einer, der von aussen kommt, meint man vielleicht fälschlicherweise, gehöre man hier automatisch ins Gefüge – dass dies anders ist, stellte sich bald heraus. Es wäre falsch ausgedrückt, dass ich mich integriert hätte, aber ich suchte irgendwie ein Miteinander, versuchte, hier doch anzukommen. Mit der Zeit haben die Einsiedlerinnen und Einsiedler das Vertrauen in unsere Kiosken gefunden und ha-ben offen über sich und das Leben erzählt. Nach fünf Jahren endlich, jetzt, wo wir aufhören (lacht)! Welche Bewegung nehmen Sie in Einsiedeln wahr? Keine. Es gibt kein gemeinsames Austarieren, sondern jede Form von Bewegung ist sehr fragmentiert. Da sind schon einzelne Bewegungen und Veränderungen im Gange, aber nicht in einem Zusammenspiel. Ich erlebe eher Rückzugs- oder Schutzbewegungen. Hier sind wohl viele Menschen, die sich sozial engagieren, aber das grosse Öffnen findet nicht statt. Grundsätzlich wünschte ich mir mehr Lockerheit und Offenheit.

Ist das Klosterdorf eine abgeschlossene Insel inmitten einer grossen, weiten Welt? Wenn man von aussen kommt, wird die Welt sehr klein in Einsiedeln, weil man sich hierzulande um sich selber dreht. Alles ist eng hier. Es gibt keinen Raum und kein Mitgefühl für die Themen der Welt. Alle stehen am gleichen Punkt und sind doch alleine und nicht zusammen. Ich frage mich, welchen Sinn es zum Beispiel macht, aus der Hauptstrasse eine Begegnungszone zu machen. Wer soll dort wem und aus welchem Grund begegnen? Ist es so, dass eine Mitgliedschaft in einem Einsiedler Verein unabdinglich ist für eine Integration von Neuzuzügern? Wer nicht ein Vereinsmeier ist und keine Lust verspürt, im Turnverein oder in einer Fasnachtsgesellschaft mitzumachen, hat schlechte Karten. Abgesehen davon kann man auch als Vereinsmitglied ein Fremder bleiben. Hier wartet niemand auf einen. Auch einem Hiesigen nimmt man übel, wenn er zu lange weg blieb in der Stadt. Man will die Fremden nicht und ist doch ganz auf sie angewiesen. Man sieht am Klosterplatz, was geschieht, wenn die Pilger- und Touristenströme, die es früher einmal gab, ausbleiben. Gleichzeitig gehen die Jungen aus Einsiedeln abends nach Zürich in den Ausgang. Immer mehr Beizen und Geschäfte gehen im Klosterdorf für immer zu.

Aus welchen Gründen haben Sie den Agenturvertrag mit Valora AG gekündigt? Es ist an der Zeit, nach fünf Jahren einen Schnitt zu machen und einen neuen Weg zu gehen. Die Zahlen haben in den vergangenen Jahren stets gestimmt: Wir haben finanziell immerzu eine positive Bilanz ziehen können und waren mit der Kundenfrequenzen glücklich. Allerdings erkenne ich wenig Entwicklungsmöglichkeiten mit Valora AG. Als Agenturpartner ist man sehr fremdbestimmt. Alles ist vorgegeben, man kann nicht einmal einen Teil von Produkten selber auswählen, die es im Kiosk zu kaufen gibt. Als Agenturpartner trägt man das finanzielle Risiko und ist für das Personalwesen verantwortlich. Alles andere bestimmt Valora. Hinzu gekommen ist in den letzten zwei Jahren der Personalmangel. Es ist schwierig, qualifiziertes und engagiertes Verkaufspersonal zu finden.

Wieso wird es für Kioske immer schwieriger, überleben zu können?

Spürbar ist, dass die Leute mehr sparen, weil sie nicht mehr so viel Geld haben wie früher. Sie verpflegen sich eher zu Hause und kaufen kaum mehr ein Sand-wich oder ein Mineralwasser bei uns. Zeitungen und Zeitschriften werden heutzutage weniger «offline » gelesen und geraucht wird auch etwas weniger. Die Eltern kaufen ihren Kindern vielleicht noch Chips und ein Glace. Was gut läuft, sind Kinderhefte, Postkarten, Lösli und Lottoscheine. Ungünstig wirkt sich der Umstand aus, dass es in Einsiedeln einen Sackbahnhof gibt, von dem aus sich die Leute sputen müssen, um das Postauto noch rechtzeitig erreichen zu können. Oftmals gehen die Leute etwas am Bahnhofskiosk kaufen, wenn sie umsteigen müssen. Diese Möglichkeit entfällt im Klosterdorf. Hinzu kommt die grosse Konkurrenz für unseren Kiosk am Bahnhof durch einen Mitbewerber, mit dem wir jedoch in all den Jahren gegenseitig immer ein sehr freundschaftliches Verhältnis pflegten. Ganz wichtig: Alle drei Kioske werden von einem neuen Agenturpartner weitergeführt!

Wie kommt es dazu, dass Kioske vermehrt zu einem sozialen Treffpunkt für Vereinsamte werden?

Spannend ist, dass jeder der drei Kioske in Einsiedeln andere Kunden hat. Zum Bahnhofskiosk kommen Reisende, zum Kiosk am Hauptplatz Touristen, und der Kiosk im Migros hat seine Stammkundschaft. Es gibt hingegen bei allen drei Kiosken einen gemeinsamen Nenner: Es kommen vermehrt ältere Leute in die Kioske, die allein in ihrer Wohnung leben und sich einsam fühlen. Niemand in der Welt hat Zeit, um mit diesen Menschen ein Wort zu wechseln. So kommen sie zu uns für einen Austausch, um reden zu können über Gott und die Welt.

In der Vergangenheit war der Bahnhofplatz in Einsiedeln Treffpunkt für Randständige. Wie haben Sie das erlebt? Das war in der Tat eine schwierige Zeit: Das Verkaufspersonal hat am Arbeitsplatz kritische Situationen erlebt. Teils wurde abends der Kiosk früher geschlossen, die Läden runtergelassen. Wir mussten des Öftern die Polizei rufen, wenn gestohlen worden ist oder wenn sich Leute renitent benommen haben. Ich darf der Polizei ein Kränzlein winden: Sie ist immer schnell gekommen, wenn wir sie gerufen haben. Die Polizei hat eine sehr gute Arbeit gemacht. Positiv wirkt sich auch das Rauchverbot am Bahnhof aus. Früher lagen da unzählige Zigistummel herum.

Wie hat sich das Kundenverhalten in den letzten Jahren gewandelt?

Das Verhalten der Kunden hat sich massiv verändert, was nicht nur auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist: Sie sind im Umgang distanzierter geworden. Die Leute kommen mir sehr isoliert vor: Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Dieser Umstand wird verstärkt dadurch, dass viele nur noch mit Kopfhörer und am Handy herumlaufen. Da gibt es Leute, die zu mir in den Kiosk kommen, die wissen nicht mehr, wo sie sind und was sie kaufen wollten … Wohin führt uns die überhandnehmende Individualisierung in der Gesellschaft? In unserer Gesellschaft ist ein riesiger Wandel im Gange: Die Menschen suchen nicht mehr den Kontakt zum anderen. Die Zeit und das Interesse, dem anderen zuzuhören, auf die Leute zuzugehen, kommen uns abhanden. Darunter leiden just diejenigen Menschen, die darauf angewiesen sind, dass jemand mit ihnen spricht – weil sie allein und einsam sind. Haben Sie selber wahrgenommen, dass die Menschen vermehrt vereinsamen? Ich nehme die Einsamkeit der Menschen dadurch wahr, dass vor allem ältere Personen regelmässig das Gespräch mit mir suchen. Uns fällt dann auch auf, wenn Leute von heute auf morgen nicht mehr zum Kiosk kommen. Wir hatten einmal den Fall einer Person, die spur-los verschwunden ist: Wir gin-gen der Sache nach und haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Person wieder zu fin-den. Gefunden! Sie lag gut versorgt schon im Spital. Verantwortlichkeit und Fürsorge wurden in unseren Kiosken immer gelebt!

Welche weiteren Projekte werden Sie nach den Kiosken in Angriff nehmen? Als Erstes: Ausschlafen (lacht)! Sicherlich werden mir unser Personal und auch die Kundschaft fehlen von dem Tag an, an dem ich nicht mehr im Kiosk stehen werde. Aber mit 61 Jahren ist es noch zu früh, mich pensionieren zu lassen. So werde ich sicher unseren Online- Handel intensivieren und das Produktsortiment ausbauen und erweitern. Aber zuerst werde ich eine Auszeit nehmen und anschliessend eine neues, spannendes Projekt starten. Ich blicke ganz zuversichtlich in die Zukunft und freue mich sehr auf den neuen Lebensabschnitt.

Was haben Sie beruflich in früheren Zeiten gemacht? Ich bin in der Versicherungsbranche tätig gewesen, unter anderem im Bereich Kunst. Eigentlich wollte ich als Bub einmal Automechaniker werden. Aber meine Eltern fanden das nicht so toll (lacht). Also habe ich eine Lehre als Maschinenzeichner absolviert. Gearbeitet habe ich aller-dings nie auf diesem Beruf. Vielmehr habe ich dann ein Studium in Sozialversicherungsrecht absolviert. Wohin bewegt sich die Welt?

Wir leben in einer Welt voller Krisen und sehr naher Kriege. Da ist es angesagt, dass wir uns mit anderen verbinden, statt uns weiter zu isolieren. Allein wird die Schweiz niemals bestehen können. Die Schweiz ist keine Insel in dieser Welt. Abgesehen davon entgeht uns mit der aktuellen Isolation ein europäischer Wirtschaftsmarkt mit 600 Millionen Menschen. Weshalb soll unser Land auch in Zukunft im Abseits stehen? Gestalten wir die Zukunft der Welt gemeinsam mit unseren Ideen, unserer Kultur und Geschichte.

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