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Annelies Zehnder-Hensler

NEKROLOGE

Am 4. April 1929 kommt Annelies im Stauffacher an der Hauptstrasse 39 in Einsiedeln zur Welt. Sie ist das erste Kind von Louis und Josefine Hensler-Theiler und das einzige Mädchen. In den nächsten zwölf Jahren kommen noch fünf Buben dazu. Mit erst zwei Jahren muss Annelies gegen die Diphterie um ihr Leben kämpfen und gewinnt nur ganz knapp. Umso lebenslustiger erlebt sie die nächsten Jahre ihrer Kindheit, wenn auch in sehr einfachen Verhältnissen.

1939 endet die unbeschwerte Kinderzeit mit dem Kriegsbeginn. Auch Vater Louis muss einrücken. Mutter Josefine ist nun mit Annelies und ihren kleinen Brüdern allein zu Hause. Mitten in diese angstvolle Zeit kommt 1941 noch ein weiterer Bruder, der Karl, zur Welt. Dann wird ihr Vater wegen seiner Arbeit als Chemigraph schwer krank auf der Lunge und stirbt 1943, mit erst 40 Jahren. Mit grossem Willen und gutem Mut, aber auch mit Hilfe von lieben Leuten baut Mutter Josefine ihr eigenes Geschäft auf, vom kleinen Krämerladen im Oberdorf bis hin zu einem richtigen Spielzeugladen. Noch viele Jahre später wird sie in ihrem Kiosk im Stauffacher Stümpen verkaufen und den Pilgern, egal in welcher Sprache, den Weg zu Gott oder wenigstens bis zur Klosterkirche weisen. Für ihre Enkel wird sie als «Sugus- Gottä» in Erinnerung bleiben.

Mutter Henslers mutiger Einstieg ins Verkaufsgeschäft bedeutet für Annelies, dass sie zum Haushalt inklusive fünf «Schnuder-Büäblä» schauen muss. Daneben hilft sie noch im Hotel Rot Hut aus. Wahrlich kein Schleck für die 14-Jährige, muss sie über all dem sogar frühzeitig die Schulzeit beenden. Aber was das Leben sie jetzt lehrt, prägt ihr Wesen und macht sie zu einer starken jungen Frau.

Trotz der täglichen Müh ist es bei den Henslers keineswegs trist und düster. Sie haben die Muse und das Talent der Mutter geerbt, es wird musiziert, gemalt und noch mehr gesungen und «theäterled».

Annelies spielt schon früh auf der Chärnähus-Bühne und 1950 sogar die Schönheit am Welttheater. Dort macht sie auch in späteren Jahren immer wieder mit, zusammen mit ihren Brüdern Paul und Karl. Im Chärnähus spielt aber auch ein anderer Bursche mit. Es ist Walter von der Schreinerei Zehnder an der Eisenbahnstrasse 9. Der sticht Annelies ins Auge und auch er kann seine kaum mehr von ihr lassen. Die beiden kommen zusammen und bleiben.

Am 28. Mai 1951 wird im Flüehli Sachseln geheiratet und dann gezügelt. Das junge Paar wohnt jetzt im Nussbaum direkt ob den Schwiegereltern und der Schreinerei Zehnder. Kaum ein Jahr vergeht und Nachwuchs kommt. Der Stammhalter heisst natürlich wie der Vater und kaum kann er reden, heissen Annelies und Walter nur noch Mutti und Dädi. So nennen sie sich später auch untereinander.

Zwei Mädchen, fünf Buben und wieder zwölf Jahre später ist die zehnköpfige Familie komplett.

Auch in der Schreinerei ist Dädi sehr produktiv, das Geschäft wächst und wird zur Möbelfabrik Zehnder AG. Mutti Zehnder führt und pflegt Haushalt, Familie und Garten mindestens so gut und behält die Nerven auch, wenn die Kinderschar wieder mal nach allen Seiten zerrt.

«Jetzt chasch mr dä a d’Chilbi chou», hört man sie dann, wenn der erste schon wieder mit verdreckten Hosen vom Garten kommt, noch bevor die restlichen Kinder für die Sonntagsmesse fertig «gsunntiged» sind.

Kleiner werden sie ja auch nicht und schon bald wird es im Nussbaum zu eng für die Familie Zehnder-Hensler. Darum baut Dädi ein bäumiges Haus mit noch bäumigerem Schwimmbad auf die noch fast leere Furrenmatte und 1966 wird wieder gezügelt.

Die Kinder wachsen Mutti über den Kopf, aber nur in Zentimetern. Sie hält die Fäden fest in der Hand, organisiert, pflegt, tröstet, schlichtet, immer gütig, manchmal resolut.

Einer um die andere reift zum Teenager und kann die gar katholische Erziehung nicht mehr immer ganz nachvollziehen. Mutti und Dädi sind so besorgt darüber, dass sie den Schwestern im Frauenkloster einiges spenden, damit diese helfen mögen, die Teenager-Flausen wegzubeten.

Ja, die Zeiten ändern sich, aber Mutti und Dädi gehen mit ihr. Lassen sie ihre Ältesten noch nicht unverheiratet zusammenwohnen, empfehlen sie später den Jüngeren, erst doch einmal probehalber zusammenzuwohnen, bevor sie ans Heiraten denken. Zu guter Letzt finden jedoch alle Kinder passenden Anschluss und kommen damit immer sehr gerne nach Hause zu Besuch.

Mit erst 44 Jahren wird Mutti dann stolze Grossmutter. Ihr eigener Jüngster ist gerade mal 9-jährig. Der Grosskinder werden mehr und mehr und der ausgefüllten Tage nicht weniger. Mutti wetzt die Lismernadeln, ölt die Nähmaschine und liefert Schlüttli, Röckli, Finkli, Fasnachtsgwändli und noch mehr Fasnachtsgwändli für all die kleinen und grossen Hudi.

Ja, die Fasnacht ist auch für Annelies fast die wichtigste Jahreszeit. Schon jung darf sie bröiggen und tan-zen gehen, zusammen mit ihrer Mutter. Auch mit ihren Brüdern ist sie oftmals als noch einziges Fräulein irgend in einer Küche am «Schwarznen », soll sie doch auf die Jünglinge aufpassen. Später wirkt sie mit ihren begnadeten Stimmbändern und Schneiderhänden jahrzehntelang im harten Kern des Einsiedler Frauenchors und tritt erst mit über 70 Jahren zurück, als ihr die Lieder zu modern und ihre Augen zu schwach für die Näherei werden.

Als hätte Mutti mit den bald über 20 Grosskindern nicht genug um die Ohren, geht sie oft noch in die Möbelfabrik an der Zürichstrasse 63, wo sie den Damen in der Administration unter die Arme greift und auf die Finger schaut. Auch während Möbelmessen ist sie gerne präsent und hilft hinter und vor dem Buffet. Aber ja, es gibt auch Freizeit. Mit ihren vielen Bekannten aus dem Vereinsund Geschäftsleben unternehmen Mutti und Dädi allerlei, vom Jass am Stammtisch bis zu ausgedehnten Reisen. Auch im späten Pensionsalter sind der Morgenschwumm im Pool und der Abendspaziergang fest im Tagesplan.

2001 folgt Muttis erstes Urgrosskind. Es ist genau 100 Jahre jünger als «d’Sugus-Gottä».

Im gleichen Jahr feiern Mutti und Dädi ihre goldene Hochzeit. Wer hätte an diesem tollen Fest gedacht, dass nur 7 Jahre später ihr ältester Sohn mit erst 56 Jahren sterben wird. 2010, zwei Jahre nach ihrem Sohn, muss Mutti auch Dädi, ihren allerliebsten Mann gehen las-sen. Fast 60 Jahre sind die zwei gemeinsam durchs Leben gewandert, in aufrichtiger Liebe, mit einem tie-fen Glauben und gesegnet mit ihrer grossen Familie. Auch drei ihrer jüngeren Brüder, Louis, Sepp und Willi, sind Annelies noch vorausgegangen. All diese Verluste trägt sie mit ihrem gesunden Gottvertrauen.

Noch ganze zwölf Jahre wohnt Mutti nach Dädis Tod allein in ihrer Wohnung an der Furrenmatte 7. Für Kreuzworträtsel und Puzzles sieht sie zu wenig. Plätzli stricken und dazu Radio hören, geht zum Glück und Mutti knebelt noch Strickdecken am Laufmeter raus. Die Farbkombinationen werden allerdings immer gewagter. Sie freut sich über jeden Besuch, vor allem wenn sie im Garten sitzen kann und möglichst viele Gross- und Urgrosskinder im Schwimmbad oder um sie herumtollen.

Fast blind wird auch das Kochen zum Wagnis. Deshalb trippelt Mutti nun fürs Mittagessen abwechselnd zu ihren Schwiegertöchtern. Davon wohnen ja doch einige direkt in Nachbarschaft. Noch mehr wird Mutti aber von ihrer jüngsten Tochter unterstützt. Helen liest und schreibt für sie, geht einkaufen, erinnert sie an die täglichen Pillen und die Geburtstage ihrer Nachkommen. Inzwischen sind es 24 Gross- und gleich viele Urgrosskinder. Ihren Führerausweis gibt Mutti, nach 60 Jahren unfallfreier Fahrt (eigentlich Nichtfahrt. Dädi fuhr immer), bügelglatt ans Verkehrsamt zurück.

Im Sommer 2022 zügelt Mutti dann doch noch und freiwillig ins Altersheim. Sie weiss genau, welches Zimmer es sein soll und zum Glück ist dieses noch frei. Mutti geniesst die Rundum-Betreuung, noch mehr Besuche, aber auch die Geselligkeit in der Gerbe selbst. Mit ihrer neusten Bekanntschaft, Franz von Rothenthurm, kann sie wunderbar höckeln, schwatzen und übers Essen pfuttern: «z’faad und immer z’viel Riis!» An Weihnachten kann Mutti ihr erstes Ur-Urgrosskind in die Arme nehmen und es entsteht ein eindrückliches 5-Generationen-Bild. Es sollte wohl das letzte mit ihr sein. Eigentlich ist unser Mutti noch ordentlich gesund, als sie heuer am 8. Februar ein schwerer Hirnschlag trifft. Er lässt ihr keine Chance, sich nochmals zu erholen. Sie kann sich uns nicht mehr richtig mitteilen. Aber sie gibt uns noch etwas Zeit, ganz bewusst bei ihr zu sein, sie zu halten, zu streicheln, ihre Wärme zu spüren.

Natürlich wartet Mutti noch bis nach der Fasnacht und geht erst am Aschermittwoch, fast 94-jährig, heim zu ihren Liebsten im Himmel: «Det git’s sicher au ä Mählsuppä, oder?» Liäbs Mutti, chasch zfriedä ruäh. Wil, vergässä tuämmer di niä.

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