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Fahren bis der Arzt kommt

Gemäss Unfallstatistik sind Senioren in 20 Prozent der Fälle die Verursacher von Unfällen – in 22 Prozent werden sie Verkehrsopfer

Der Mensch wird immer älter und immer mobiler. Gerade in ländlichen Gebieten ist das Auto für Senioren ein unverzichtbares Transportmittel. Wie lange sie fahrfähig sind und ob die Hausärztin dies unparteiisch beurteilen kann, sind heikle Fragen.

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) hat im November zu ihrem Forum «Sicheres Autofahren im Alter» geschrieben, dass «ältere Menschen überdurchschnittlich häufig an Unfällen beteiligt sind und diese auch überproportional häufig verursachen».

Gemäss der BFU ist für Lenkende ab 65 Jahren das Risiko, einen schweren Autounfall zu verursachen, kilometerbereinigt doppelt so hoch wie bei Lenkenden im mittleren Alterssegment (25 bis 64 Jahre).

Alle zwei Jahre ärztlich abklären Bei Personen ab 75 Jahren steige das Unfallrisiko sogar um das Fünffache. Gründe dafür sei-en beispielsweise Leistungseinschränkungen und Erkrankungen, die mit zunehmendem Alter auftreten.

Alle über 75-Jährigen müssen in der Schweiz alle zwei Jahre beim Arzt in einer verkehrsmedizinischen Kontrolluntersuchung die «Fahreignung» abklären. Dies regelt Artikel 14 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG). Welche medizinischen Anforderungen zu erfüllen sind, steht in der Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr. Die Sinnhaftigkeit dieser medizinischen Abklärung zieht die BFU in Zweifel und schlägt vor, das Alter anzuheben: Sie stützt sich dabei auf einen Vergleich mit Deutschland und Österreich.

Wichtige Freiwilligkeit Peter Wespi, Vorsteher Verkehrsamt Kanton Schwyz, ist mit der BFU nicht einverstanden: «Die Studie ist mit zu vielen Fehlern, Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten behaftet.» Weiter bemängelt er am Ländervergleich der BFU, dass «nur schwere Unfälle ausgewertet wurden».

Auch hält Wespi fest: «Aufgrund der gebirgigen Topografie und der teils widrigen Strassenverhältnisse im Winter in der Schweiz dürfte insbesondere der Vergleich mit Deutschland teilweise hinken.» Wichtiges Argument zur Fortführung der Praxis ist für Peter Wespi auch, dass viele we-gen des Aufgebots zur obligatorischen Abklärung beim Arzt die Fahrtauglichkeit hinterfragen: «Bei einem Verzicht auf periodische medizinische Kontrolluntersuche würden alle diese freiwilligen Verzichte auf den Führerausweis entfallen.» Doch wie viele Personen verzichten wirklich freiwillig und tragen so zur Verkehrssicherheit bei? Und wie viele im Kanton Schwyz bestehen überhaupt den Untersuch?

Im vergangenen Jahr wurden laut Wespi 4476 Aufgebote für die periodische medizinische Kontrolle an Senioren versandt. Darauf haben rund 500 Personen verzichtet und bei etwa 20 bis 30 Personen hat ein Arzt die Fahreignung verneint. Somit wurde bei rund 3950 Senioren die Fahreignung bejaht oder unter Auflagen bejaht.

Negative Entscheide sind heikel

Nun hört man oft, dass Hausärzte langjährigen Patienten nur schwerlich die Fahreignung absprechen: Atteste aus Gefälligkeit? Wir konfrontierten mit die-ser These Kantonsarzt Christos Pouskoulas: «Dieser Vorwurf wird immer wieder mal geäussert. Wir gehen aber davon aus, dass die untersuchenden Ärztinnen und Ärzte sich ihrer Verantwortung bewusst sind und die Untersuchungen sorgfältig durchgeführt werden», entkräftet Pouskoulas.

Und auch die Meinung eines Hausarztes zu diesem Vorwurf nahm uns wunder: Wir erkundigten uns stellvertretend bei Lukas Schibli in Lachen. Er betreibt mit Stefan Mostert die Gemeinschaftspraxis Biberzelten. Wie Lukas Schibli mitteilte, werden von den zwei Ärzten in der Praxis jährlich «etwa hundert Kontrolluntersuchungen vorgenommen, also gut zwei pro Woche». Man spreche «pro Jahr etwa zwei bis vier negative Entscheide aus».

Danach gefragt, wie Betroffene auf einen Negativbescheid reagierten, sagt Lukas Schibli: «Es ist immer sehr schwierig für die Patienten, das negative Resultat zu akzeptieren. Die wenigsten möchten aber eine Weiterweisung an eine höhere Instanz.» Wie der Facharzt für Innere Medizin FMH ausführt, würden Betroffene zumeist das kantonale Verzichtsformular unterschreiben und den Ausweis abgeben.

Hausärzte sind nah am Patienten Doch ist die Nähe zum Patienten nicht ein Problem? Im Gegenteil, findet der Hausarzt: «Wir finden es gut, wenn wir unsere eigenen Patienten beurteilen können, da wir ihre gesundheitlichen Probleme kennen. Natürlich ist es schwierig, den Patienten mit einem negativen Resultat zu konfrontieren. Aber wenn das Vertrauensverhältnis stimmt, ist wahrscheinlich auch die Einsicht grösser.» Patient in der Hausarztpraxis Biberzelten ist zum Beispiel der 77-jährige Lachner Walter Regli: Er war jetzt schon zum zweiten Mal zur Kontrolle der Fahreignung aufgeboten worden – beide Male konnte er weiterfahren. Doch tut er dies wirklich sicher? Der rüstige Senior gibt freimütig Auskunft: «Eigentlich habe ich keine Einschränkungen. Doch bedingt durch den Alterungsprozess ist die Reaktionszeit nicht mehr wie früher.» Regli – er fährt meist nur in Lachen und Umgebung oder «in die frühere Heimat im Kanton Uri» – räumt ein, dass er «nachts oder bei schwierigen Verhältnissen gerne das Steuer der Frau überlässt». Was er, nach dem Sinn des Medizinchecks befragt, «noch sinnvoll» fände, wäre ein praktischer Fahrtest parallel zum Arztbesuch. Weiterbildung in der Fahrpraxis

Solche Fahrtests befürwortet auch Lukas Schibli: «Der medizinische Untersuch ist sicher wichtig, um gesundheitliche Probleme zu entdecken. Um aber die Führertauglichkeit genau zu beurteilen, wäre sicher ein Fahrtest mit einem geschulten Experten sinnvoller.» Das werde auch gemacht: Wenn trotz des bestandenen medizinischen Untersuchs Zweifel an der Fahrtauglichkeit bestünden, werde ein Fahrtest bei einem Experten veranlasst.

Solche Überprüfungen macht Anton Kalberer. Er ist Inhaber der Fahrschule Toni und Daniel Kalberer in Kaltbrunn und Präsident von Seniordrive: Dies ist die Organisation von Fahrlehrern, die sich eigens als Coaches für Senioren weiterbildeten.

Kalberer: «Das grösste Problem ist der Rückgang der Fahrpraxis. Je seltener die Fahrt, desto grösser der Routineverlust. » Es sei Seniordrive ein Anliegen, «dass man Personen, die nicht mehr über die nötige Fahrkompetenz verfügen, rechtzeitig erkennt».

Medizinische Abklärungen zur Ermittlung der Fahreignung machten Sinn, doch es brauche eine Ergänzung im Bereich der Fahrkompetenz. «Es geht auch darum, den Artikel 14 des Strassenverkehrsgesetzes konsequent zu vollziehen, der vorsieht, dass man nebst der Fahreignung auch über Fahrkompetenz zu verfügen hat», betont Kalberer. Ob dieser Wunsch Realität wird, ist ungewiss: Es braucht hierfür politische Entscheide.

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