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Dieser Vogelkundler kennt keinen Ruhestand

Dieser Vogelkundler kennt keinen Ruhestand Dieser Vogelkundler kennt keinen Ruhestand

Er wohnt in der Schwyzer «Kappelmatt» und ist ein international anerkannter Ornithologe: Urs N. Glutz von Blotzheim wurde kürzlich 90-jährig. Er wünscht sich, dass die Versäumnisse zur Erhaltung der Biodiversität end-lich angegangen werden.

ALAIN HOSPENTHAL

Stimmt es, dass Sie bereits im Kindesalter im elterlichen Garten ausgedehnte Natur- und Vogelbeobachtungen unternommen haben? Bis zur Rekrutenschule verbrachte ich den Sommer stets auf der Riederalp. Dort begann ich die Alpenflora und Vögel kennenzulernen und zu schätzen. Aufgewachsen bin ich in Solothurn, wo ich jeweils die Schulaufgaben am Fenster gemacht habe. Meist schaute ich mehr in den naturnah gestalteten Garten, als zu lernen. Ich durfte dort Kaninchen, Stock- und Spiessenten halten und war stolz auf unsere Laubfrösche. Mit 17 Jahren begann ich dann mit intensiven Exkursionen, vor allem in der Aare-Ebene westlich von Solothurn.

Sie haben bereits ab 1962 im Alter von erst 30 Jahren mit dem 14-bändigen «Handbuch der Vögel Mitteleuropas» ein bis heute verbindliches Referenzwerk geschaffen. Im Frühjahr 1962 erschien mein Erstlingswerk «Die Brutvögel der Schweiz». Ich durfte dieses als Assistent an der Schweizerischen Vogelwarte in Sempach konzipieren und verfassen. Diese Avifauna war als eine der ers-ten stark ökologisch ausgerichtet und hat Furore gemacht – weshalb ich daraufhin gefragt wurde, ob ich bereit wäre, an der ins Stocken geratenen Neubearbeitung des «Handbuchs der Deutschen Vogelkunde» mitzuarbeiten. Ich habe zugesagt unter der Bedingung, ein «Handbuch der Vögel Mitteleuropas» erarbeiten zu dürfen.

Damals war das ein sehr wagemutiger Entscheid, da eigentlich fast alle Voraussetzungen fehlten, zumal der zu bearbeitende geografische Raum durch den «Eisernen Vorhang» getrennt war. Zudem fehlten die finanziellen Mittel, und es gab kaum Infrastruktur. Auch war ich noch ungenügend mit ausländischen Ornithologen vernetzt. Ich musste mir also alles erarbeiten. Band 1 erschien dann aber 1966, und ab dem 1. April 1967 hat der Schweizerische Nationalfonds die Bearbeitung der weiteren Bände finanziert. Wie geht es den europäischen Vogelarten heute, und wie gestaltet sich der Ausblick? Sehr unterschiedlich. Genera-listen und Waldvögel beispielsweise nehmen zu; ebenso Reiher, Gänse, Enten und mehrere Greifvogelarten. Arten, die in landwirtschaftlich genutzten offenen und halboffenen Landschaften brüten, haben aber seit zirka 1960 drastisch abgenommen und nehmen trotz angeblicher Biodiversitätsförderung weiterhin ab. So hat beispielsweise heutiges Grasland nichts mehr mit ehemals mannigfaltigen Blumenwiesen zu tun. Es ist überdüngt, zu dicht, zu raschwüchsig und mikroklimatisch für Wirbellose zu feucht. Die Vögel können sich nur noch unmittelbar nach der Mahd oder Beweidung im Gras bewegen.

Auch die Schnittfolge ist für Bodenbrüter viel zu kurz. Siedlungsbrüter (Gebäudebrüter, Nutzniesser der ehemaligen Kleintierhaltung und infolge der Rodung von Baumhecken in bewohnte Gebiete eingewanderte Arten) finden leichter Nahrung und sind besser geschützt als im landwirtschaftlich genutzten Raum. Sie können ihren Bestand aber nur halten, wenn wir ihnen als Ersatz für durch Gebäudesanierungen verloren gegangene Brutplätze Nisthilfen zur Verfügung stellen (Mauersegler, Mehlschwalbe) und gewisse Lärmimmissionen und Schmutz tolerieren (Saatkrähe und Dohle), um nur einige zu nennen. Sie setzen sich auch heute noch für das Wohl der Vögel ein und ergreifen für diese Partei, wenn beispielsweise Bauprojekte deren Leben potenziell beeinträchtigen. Wie ist es um die Vogelpopulation im Schwyzer Talkessel bestellt?

Dank unserer wunderschönen Landschaft bewerten wir Schwyzerinnen und Schwyzer unsere Fauna und Flora als mehrheitlich intakt, weshalb zu viele von uns einen griffigeren Naturschutz nicht für notwendig halten. Dies betrachte ich als bedauerlichen Irrtum. Trotz unserer vermeintlich schönen Landschaft nehmen ehemals häufige Vogelarten, wie Bergpieper, Baumpieper, Ringdrossel, Zitronenzeisig und andere ab oder sind schon weitgehend verschwunden. Dies gilt vor allem für Feldlerche und Braunkehlchen. Tut die Schwyzer Politik aus Ihrer Sicht genug für die Biodiversität und den Erhalt der Vogelwelt, oder müsste mehr getan werden? Der anhaltende Biodiversitätsschwund zeigt unmissverständlich, dass gesamtschweizerisch sowohl Politiker wie Öffentlichkeit viel zu wenig tun, um die Biodiversität, von der wir abhängen, zu fördern. Wenn die Bestäubung von Obstbäumen von Menschen «übernommen» werden muss, kommt dies einer Kapitulation gleich. Wo verorten Sie die grössten Missstände, und was müsste dringend unternommen werden?

Unsere Naturschutzgebiete sind zu klein, nach typisch schweizerischer Art zu polyvalent. Das heisst, statt Gebiete auszuscheiden, wo die Natur absolutes Primat hat, müssen selbst Reservate für badende Besucher, Hundehalter und Freizeitsportler zugänglich sein. Das sind Störungen, die von Reservaten strikte ferngehalten werden müssten. Dazu kommt, dass auch Reservate mittlerweile durch den Eintrag über die Luft überdüngt werden und sich häufig kaum noch vom Umland unterscheiden. Ohne Einschränkung der Düngung sind Bestandserholungen von Feldlerche, Braunkehlchen, Gartenrotschwanz, Wendehals und anderen nicht zu erwarten.

Ebenfalls längst nicht mehr zeitgemäss ist der Umgang mit Pestiziden. Der derzeit so freizügig mögliche Erwerb dieser Gifte für die Verwendung in Gärten muss stark eingeschränkt werden. Auch für Agrarbetriebe und Obstbauern ist die Senkung des Pestizideinsatzes zwingend. Zudem sind Glyphosat und Neonicotinoide auch für Landwirte zu verbieten und naturschädigende Subventionen endlich abzubauen.

Welche positiven Fortschritte wurden konkret erzielt? Ehrenamtlich wird viel positive Arbeit geleistet. Diese sollte aber von sich engagierenden Wissenschaftlern mit deren Erfahrung noch besser und ideologiefrei angeleitet werden.

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