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Augenblicklich

Augenblicklich Augenblicklich

ZWISCHENLUEGETEN 3

ERNST FRIEDLI

Sonst hört man dieses Tunwort selten, aber momentan schon fast täglich. Seit Ueli Maurer nach vierzehn Jahren Bundesrat pensioniert werden möchte und Simonetta Sommaruga jetzt auch noch ihren Rücktritt bekannt gegeben hat, kommt das Wort in fast jedem Radio- oder Pressebeitrag vor: Ab sofort «liebäugelt» praktisch jede der gängigen Parteien oder eines ihrer Mitglieder. Und zwar nicht mit irgendwem, sondern ausschliesslich und hemmungslos mit der Nachfolge für die Vakanzen im Bundesrat.

Klärli und ich haben uns vorzustellen versucht, wie lieb jemand äugeln muss, bis er möglichst wirksam liebäugelt. Und da Praktizieren besser ist als Studieren, haben wir das gestern beim Nachtessen gegenseitig gleich ausprobiert. Ich habe also damit begonnen und Klärli für eine halbe Minute so nett und so liebäugelnd wie möglich angeschaut. Als ich wieder normal blickte, meinte sie, da wäre also noch Luft nach oben und gab mir gleich eine zweite Chance. Dieses Mal konzentrierte ich mich beim Liebäugeln auf den Gedanken, Bundesrat werden zu wollen. Klärli zeigte sich etwas beeindruckter und meinte, für die Nachfolge von Ueli Maurer hätte das schon beinahe gereicht.

Dann wechselten wir die Rollen. Als Klärli den Kopf leicht zur Seite neigte, mit angehobenen Lidern und sichtbar geweiteten Pupillen ebenso direkt wie lieb in meine Augen äugelte und dabei geheimnisvoll lächelte, spürte ich einen fast etwas unheimlichen, mächtigen Sog in ihre Richtung. Ich habe sie dann gebeten, damit wieder aufzuhören. Schliesslich kam jetzt die Tagesschau.

* Ernst Friedli, 64, seit 31 Jahren verheiratet mit Klärli, geborene Schönbächler. Nichtraucher und Sachbearbeiter im Rathaus, steht unter Amtsgeheimnis. Macht sich in der Freizeit Gedanken zur Weltlage und zur Macht des Augen-Blicks.

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