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Generativ statt destruktiv

Generativ statt destruktiv Generativ statt destruktiv

SEITENBLICK: FUTURE CITIES

GERHARD SCHMITT

Lebensader Hauptstrasse – ein tref-fender Titel für die Einladung des Bezirks an die Bevölkerung am 5. April 2022. Ausgangspunkte waren der bauliche Zustand der Strasse und die gegenwärtige Verkehrsregelung. Die mehr als 100 Anwesenden bekamen am Anfang eine Einschätzung durch direkt Betroffene und zuständige Bezirksräte. Diese engagierten Interventionen erhöhten den Wissensstand aller. Danach diskutierten und formulierten sie in 9 Gruppen eine geplant konstruktive, also generative Lösungsfindung: Sie entwarfen, unter Einbezug kleiner Einschränkungen für Wenige, eine Verbesserung für die grosse Mehrheit. Ein Vorbild für die direkte Demokratie als generative Regierungsform.

Generativ: ein Arbeitstitel

«Generativ» ist eine Eigenschaft, die auf Regierungsformen, Natur, Infrastruktur oder einzelne Objekte zutrifft. Generative Prozesse starten immer lokal, können aber global positive Auswirkungen haben. «Generativ » geht über «nachhaltig» hinaus, indem es Bestehendes nicht nur erhalten, sondern Verbesserungen erfinden und möglichst ohne negative Nebenwirkungen umsetzen will. Unsere Schulen und Hochschulen sind dafür beste Beispiele. Destruktiv: das Gegenteil von generativ Das Gegenteil von generativem Vorgehen ist geplant destruktives Verhalten. Seit dem 24. Februar 2022 herrscht in der Ukraine ein in Euro-pa lange unvorstellbarer Zustand: Menschenleben, Gebäude, Infrastruktur und ganze Städte werden mit Einsatz primitivster und modernster Technologie geplant zerstört. Über die Jahre mühsam aufgebaute Existenzen innerhalb von Stunden vernichtet, wie uns Millionen Geflüchteter berichten. Und wieder, wie 1973 nach dem Jom-Kippur Krieg im Nahen Osten und in der folgenden Ölkrise, spielt fossile Energie als politisches Druckmittel eine Hauptrolle. In Form von drastisch steigenden Preisen für Gas, Benzin und Öl spüren wir das in Europa, in der Schweiz und in Einsiedeln.

Wie vor einem halben Jahrhundert wird das destruktive Potenzial der fossilen Abhängigkeit sichtbar: Lokal und global umweltbelastende Fördermethoden, Transport über Tausende von Kilometern per Pipe-line, Schiff, Bahn und Lastwagen, Lagerung in teuer erstellten Kellern in fast jedem Gebäude, Umwandlung in Wärme, Strom oder Bewegungsenergie in Fahrzeugen mit mässigem Wirkungsgrad bei gleichzeitigem Ausstoss von gesundheitsschädlichen Abgasen, Emissionen von CO2, Hitze und Lärm.

Generative Ansätze

Es zeigt sich klar, dass es nicht mehr um die Suche nach anderen Lieferanten fossiler Energie und damit um die Verschiebung der Abhängigkeit gehen kann. Vielmehr geht es um den beschleunigten Aufbau einer generativen Technologie und Infrastruktur, die mehr Energie produziert als für ihre eigene Herstellung und ihren Betrieb notwendig ist, und die gleichzeitig zur Stärkung der lokalen generativen Lebensweise und Industrie führt. In der Schweiz können wir dies rasch dadurch erreichen, dass alle, die dies vermögen, ihre nächsten Heizungen und Autos mit weitgehend selbst produziertem Strom betreiben. Die dazu notwendige Technologie und das handwerkliche Können sind vorhanden.

Generative Technologien Windmühlen verrichteten seit Jahrhunderten ihre Arbeit bei der Urbarmachung niederländischer Gebiete oder als Getreidemühlen auf dem Land in ganz Europa. Die modernen Nachfolgerinnen, um Faktoren leistungsfähiger, liefern heute den günstigsten und gleichzeitig erneuerbaren Strom, zusammen mit der Photovoltaik: 1839 entdeckte Becquerel den photoelektrischen Effekt, Einstein gab 1904 die theoretische Erklärung, 1954 stellten die Bell-Laboratories die erste funktionierende Solarzelle vor. Nach der Ölkrise von 1973 und dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurden die Solarpaneele immer effizienter und gleichzeitig günstiger. Heute produziert die Schweizer Firma Meyer Burger, die als Gesamtunternehmen einen positiven ökologischen Fussabdruck anstrebt, die dritteffizientesten Paneele weltweit. Windkraft und Photovoltaik decken inzwischen fast die Hälfte des deutschen Strombedarfs.

Generative Infrastruktur Im Bezirk Einsiedeln sind Ende des 19. Jahrhunderts die lokalen Energiequellen Holz und Torf an ihre natürlichen Grenzen gestossen. Es brauchte also konzentrierte Energieträger wie Kohle oder Erdöl. Doch ihr Import brachte zunehmend strategische Abhängigkeiten vom Ausland – ein aktuelles Problem. Um diese zu reduzieren, setzte die Schweiz bereits vor 100 Jahren auf die generative Wasserkraft. Und so begann die Planung des Sihlsees, mit dem Ziel der Energiegewinnung in Form von Elektrizität für den Grossraum Zürich und seiner Industrien. Damit entstand ein generatives Infrastruktursystem, das seit 1937 mit seiner jährlichen Produktion von 260 Gigawattstunden Elektrizität viel mehr erneuerbare Energie generiert, als für seine Errichtung und Unterhalt nötig waren. Nicht nur Strom und Wasser, sondern auch Erholung und Ruhe, Fischerei und Wassersport sind Ergebnisse dieser generativen Infrastruktur. Technische Fortschritte machen es jetzt möglich, den See künftig noch stärker als Pumpspeicherwerk zu nutzen und damit generativer zu machen, wie Alois Gmür in der am 18. März 2021 in weiser Voraussicht eingereichten Interpellation an den Nationalrat «Der Sihlsee als Speicher für erneuerbare Energien» aufzeigte. Der Krieg in der Ukraine macht den Vorschlag dringlicher.

Generative Zukunft

2022 stehen wir in einer einmaligen Situation: Praktisch alle Wegweiser in eine lebenswerte Zukunft zeigen in Richtung generativer Entwicklung. Denn Nachhaltigkeit wird nur von einer Minderheit der Weltbevölkerung gelebt, während der grössere Teil direkt oder indirekt destruktiv mit den natürlichen Ressourcen umgeht, auch wir selbst. Fassen wir den Mut zur praktischen Umsetzung der Vision eines generativen Einsiedelns, investieren wir auch individuell in die Produktion von mehr Energie und Wissen als wir selbst brauchen und geben es in die Kreisläufe unseres Bezirks, unseres Kantons, unseres Landes und unseres Kontinents. In diesem Sinn war «Lebensader Hauptstrasse » ein ermutigender Start.

«Praktisch alle Wegweiser in eine lebenswerte Zukunft zeigen in Richtung generativer Entwicklung.»

Gerhard Schmitt, Professor Emeritus für Informationsarchitektur, ETH Zürich. 2010 Gründungsdirektor Singapore- ETH Centre; Mitentwickler des Future Cities Laboratory in Singapur. Seit 2017 Forschungsleiter für Cooling Singapore. Seit 2005 Entwicklung der Informationsarchitektur im urbanen und territorialen Massstab an der ETH Zürich und in Asien. Studien in München, Los Angeles und Berkeley. 1988 Berufung an die ETH Zürich. Zuvor Associate Professor an der Carnegie Mellon Universität; Gastprofessor an der Harvard University. 1994 bis 1996 Vorsteher der Architekturabteilung der ETH Zürich. 1998–2008 Vizepräsident der ETH Zürich für Planung und Logistik. 2000 Initiator des virtuellen Campus ETH World und 2003 des nachhaltigen Science City Campus der ETH Zürich. Für diese Arbeit erhielt er 2010 den europäischen Wissenschafts- Kulturpreis.

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