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An der Schwelle eines neuen Lebensjahres

An der Schwelle eines neuen Lebensjahres An der Schwelle eines neuen Lebensjahres

SEITENBLICK: GLAUBEN UND ZWEIFELN

PATER THOMAS FÄSSLER

Der 1. Januar ist für mich eine Schwelle, die eigentlich gar keine ist, ist er doch im Grunde genommen ein Tag wie jeder andere, ohne dass er mit meinem Leben direkt etwas zu tun hat. Anders sieht es mit dem 1. Oktober aus. Zwar werde ich auch an diesem Tag jeweils nicht schlagartig ein Jahr älter, aber er erinnert mich doch daran, dass nun wieder ein Lebensjahr vollendet ist – und ein neues beginnt. An diesem Tag überschreite ich also eine echte Schwelle. Ausdruck eines Lebensgefühls

Bis zum 30. Geburtstag hat mich das Älterwerden schon etwas beschäftigt. Inzwischen bin ich aber auch bei diesem Thema gelassener geworden. Ob dies daran liegt, dass ich in den inzwischen 15 Jahren als Mönch im Kloster vom Lebensgefühl des Barocks geprägt worden bin, den ich hier täglich vor Augen habe?

Tatsächlich ist der Barock in erster Linie als Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls zu verstehen, tief geprägt von der Erfahrung des Dreissigjährigen Krieges (1618 bis 1648).Während langen drei Jahrzehnten erlebten Hunderttausende von Menschen in halb Europa nicht nur handfestes Leid und Schrecken, sondern auch die Angst davor, den morgigen Tag nicht mehr erleben zu dürfen, sei es wegen Gewalt, Hunger oder Seuchen.

Es war unmöglich, der Tatsache nicht ins Auge zu blicken, dass das irdische Leben endlich ist, ja eben von heute auf morgen zu Ende sein kann. Diese Erfahrung prägt. Denn das Leben will gelebt sein, solange man die Möglichkeit dazu hat. Statt ständig zu planen, zu sparen und ans Morgen zu denken, das es vielleicht gar nie geben wird, wollte man das Heute geniessen. Man wollte sich am Leben in all seiner Schönheit freuen und dies unter anderem auch in der Kunst zum Ausdruck bringen, ohne dabei freilich völlig im irdischen Genuss aufzugehen.

Denn schliesslich wusste man ja eben, dass dies alles schlagartig zu Ende sein kann. Entscheidend war dabei der Glaube daran, dass man in diesem Moment nicht einfach in ein leeres Nichts falle, sondern dass danach etwas komme, bei dem es freilich durchaus ausschlaggebend sei, wie man das eigene Davor gestaltet hat.

Eine Scheibe davon abschneiden

Sich am Moment zu freuen und gleichzeitig den Blick auf die Ewigkeit gerichtet zu haben. Echte, ungespielte Lebensfreude inmitten von Schrecken und Grauen, ohne zermürbende Existenzangst. So könnte man das barocke Lebensgefühl beschreiben. Davon möchte ich mir tatsächlich zumindest eine Scheibe abschneiden.

Nicht nur mit dem Älterwerden schwindet die Illusion, dass alles immer so bleiben wird, wie es jetzt ist. Auch das unerwartete Eindringen der gegenwärtigen Pandemie hat uns unsere eigene Endlichkeit schlagartig neu bewusst gemacht, wobei dies viele offensichtlich ziemlich unvorbereitet und dadurch umso intensiver traf. Der Barock kann uns lehren, wie wir mit diesem Bewusstsein positiv umgehen können, indem wir das Leben gerade mit Blick auf seine Endlichkeit bewusst wertschätzen, ohne dabei ob dieser Tatsache in Panik zu verfallen, sondern mit Gelassenheit und Vertrauen auf einen guten Gott in die Zukunft zu schreiten. Dies ist für mich eine wichtige Botschaft unseres 300-jährigen, im ersten Moment auf gewisse Leute zugegeben etwas gar üppig wirkenden Gebäudes. Und dies scheint mir eine neue Qualität ins Leben zu bringen, nach der wir uns doch alle sehnen.

«Es war unmöglich, der Tatsache nicht ins Auge zu blicken, dass das irdische Leben endlich ist, ja eben von heute auf morgen zu Ende sein kann.»

Pater Thomas Fässler (*1984) ist seit 2006 Mönch im Kloster Einsiedeln. Er studierte Theologie, Geschichte sowie Latein und unterrichtet an der klösterlichen Stiftsschule, wo er auch als Schulseelsorger und Ministrantenbetreuer tätig ist.

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