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«Wenn du schlau sein willst, sei eine Biene»

«Wenn du schlau sein willst,  sei eine Biene» «Wenn du schlau sein willst,  sei eine Biene»

Seit August 2020 leitet Martin Werlen die Propstei St. Gerold. Der 59-jährige Benediktinerpater schildert, wie diese Institution im Vorarlbergischen Grossen Walsertal ein Treiber von Reformen in Kirche und Gesellschaft bleiben und vermehrt werden soll.

MAGNUS LEIBUNDDGUT

Sind Sie Ihrem Ziel bereits näher gekommen, aus der Propstei St. Gerold eine Reformzelle zu machen? Im ersten Jahr waren zwei Reformzellen geplant: «Bei den Bienen zur Schule gehen» und «Mit Pferden auf dem Weg sein». Dabei wollen wir die Tiere bewusst nicht als Nutztiere betrachten, sondern als Geschöpfe, mit denen wir auf dem Weg sind. Leider hat das Coronavirus unsere Pläne über den Haufen geworfen. Wegen der Pandemie mussten wir diese Angebote in die Zukunft verschieben. Reformen konnten wir bereits verschiedene umsetzen, so zum Beispiel die Gestaltung des Klostergartens, im Sinne von Hildegard von Bingen und dem Schreiben «Laudato si’» von Papst Franziskus. Der Garten ist nicht mehr nur zum Schauen für die Gäste da, sondern auch zum Durchschlendern, Verweilen und Geniessen. In Zukunft soll der Garten auch mit Rollstuhl besucht werden können. Wo kommt Reformerisches im Alltagsleben der Propstei St. Gerold zum Ausdruck? Das Wesentliche der Propstei liegt darin, dass Menschen und die Schöpfung in diesem Haus einander begegnen. Aus der Begegnung entsteht Bewegung. Keiner genügt sich selbst. Wir wollen in diesem Haus das Miteinander erfahren lassen. Reformerisches kommt denn dahingehend zum Ausdruck, dass wir der Vereinzelung in einer Gesellschaft, in der jeder nur für sich selbst schaut, entgegenwirken wollen: Gemeinschaft statt Isolation; Sorge für das gemeinsame Haus. Was hat sich konkret im Betrieb dieser Propstei geändert seit Ihrer Übernahme im letzten Sommer? Auf den Schultern von Pater Kolumban, meinem Vorgänger in der Propstei St. Gerold, lastete der ganze Druck der Institution: Er hat das Ganze – Betrieb und grosse Sanierungen – weitgehend alleine gemanagt. Das ist zu viel für eine Person. Also haben wir auf seine Anregung hin das Leitungsteam der Propstei auf drei Personen ausgeweitet. Hinzu kommen auch konzeptuelle Veränderungen in der Propstei: Alle Seminare und Veranstaltungen sollen ins Gesamt der Propstei eingebettet sein. Wie wird Spiritualität in Ihrem Haus gelebt? Spiritualität kommt im Alltagsleben der Propstei zum Ausdruck: In den wohlwollenden Begegnungen, im Miteinander der Schöpfung, in den Gottesdiensten, in Gesprächen, in Einkehrtagen, in Seminaren, in den Gedanken in der Morgenpost und in der Gästemappe. Christliche Spiritualität wird gelebt im besonderen Augenmerk auf Menschen, die am Rande der Gesellschaft oder der Kirche sind. Welche Gäste finden den Weg

in die Propstei St. Gerold?

Alle, ob jung oder alt, arm oder reich, gesund oder krank, allein oder mit der Familie. Gäste kommen zu uns für Seminare, für Ferientage, zu Gottesdiensten, zu Konzerten, zu Lesungen, zur Besichtigung von Anstellungen oder zur Einkehr in unserem Restaurant. Was uns verbindet: Wir sind Suchende auf dem Weg zum Geheimnis unseres Lebens. Wir heissen besonders Menschen bei uns willkommen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen. An einem besonderen Ort dürfen sie Wohlwollen erfahren und aufatmen. Miteinander können wir unterwegs sein und einander Zeichen der Hoffnung sein. Wie geht die Oase der Begegnung konkret über die Bühne? Die Propstei St. Gerold unterstützt und begleitet Menschen in schwierigen oder belastenden Lebenssituationen durch Erholungsaufenthalte und Therapie mit Pferden. Unser Angebot richtet sich sowohl an Einzelpersonen als auch an Familien, denen die finanziellen Mittel für eine Auszeit fehlen und die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, zum Beispiel ein beeinträchtigtes Kind in der Familie, sonstige familiäre Belastungen, Trennungserfahrung, Todesfall, chronische Erkrankungen, Pflege eines Angehörigen oder in Zeiten wichtiger Entscheidungsfindungen.

Kommt es Ihrem Wesen entgegen, wie ein Einsiedler zu leben – wie weiland Gerold und Meinrad? Ich war ein halbes Jahr lang in der Tat ein Einsiedler: Weil coronabedingt das Haus geschlossen war, lebte ich den langen harten Winter über ganz alleine in der Propstei. Nicht dass ich gerade vereinsamt wäre: Aber es wäre dann doch ein wenig unheimlich, wenn dann plötzlich jemand an die Zimmertüre klopft … (lacht). Mit den Mitbrüdern bin ich jeden Tag im Gebet verbunden. Überdies sind zwei Patres aus Einsiedeln hier in der Gegend in der Betreuung von Pfarreien tätig: Pater Christoph in Blons, St. Gerold und Thüringerberg, Pater Niklaus in Schnifis, Düns und Dünserberg. Die Gemeinschaft im Klosterdorf besuche ich im Normalfall jeden Monat. Aber während des Lockdowns war das sechs Monate lang überhaupt nicht möglich. Ist bekannt, wie der heilige Gerold im Jahr 970 auf die Idee kam, den Besitz dem Kloster Einsiedeln zu vermachen? Dazu gibt es verschiedene Legenden. So ist es schwierig nachzuverfolgen, was historisch wirklich geschehen ist. Zusammen mit Gerold werden auch seine Söhne Ulrich und Kuno als Selige verehrt, die Mönche von Einsiedeln wurden. Die Verwandtschaftsbeziehungen unseres dritten Abtes Gregor aus England mit der heiligen Adelheid, der Frau von Kaiser Otto I., mögen auch eine Rolle gespielt haben. Die Kopfreliquie von Gerold liegt in der Krypta der Propstei. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in der Propstei St. Gerold den Fokus auf Reformen zu richten? Die Propstei war in den vergangenen 70 Jahren bereits ein Ort der Reformen, aber auch im Ursprung. Gerold – aus edler Familie stammend – hat sich hierher zurückgezogen und in der Einsamkeit einen neuen Lebensabschnitt gewagt. Dieser Ort kann auf eine rund tausendjährige, wechselvolle Geschichte zurückblicken: Sie hat im Laufe der Jahrhunderte Brandschatzungen, Zeiten materieller Entbehrung und des Zerfalls wie auch Enteignungen überstanden. Wie hat sich die Propstei unter

ihren Vorgängern entwickelt?

Unter Pater Nathanael wurde seit Ende der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts die Propstei zu dem, wie sie heute vielen bekannt ist. Denken wir an die Neugestaltung der Kirche mit dem grossen Gemälde von Ferdinand Gehr oder an den Friedhof mit der Lehmmauer des Lehmarchitektur-Pioniers Martin Rauch aus dem benachbarten Schlins. Die Propstei entwickelte sich seit den 70er-Jahren zu einem unkonventionellen Ort für Konzertveranstaltungen. Im Jahr 2009 übernahm Pater Kolumban die Verantwortung für die Propstei: Er engagierte sich in der baulichen und betrieblichen Sicherung der Propstei. Die Gastronomie wurde erneuert und die Zimmerkapazität erhöht. Die Herberge und der Hof tragen seine Handschrift. In welche Richtung sollen Kirche und Gesellschaft reformiert werden? In Kirche und Gesellschaft fehlt es an einem Gemeinschaftsgeist. Das zeigt sich in der Pandemie auf drastische Weise. In wichtigen Fragen ist man nicht miteinander unterwegs und bemüht sich auch nicht darum. Wir wollen hier in der Propstei bewusst miteinander einen Weg suchen. Bedingung dafür ist, dass man sich auf diesen Weg einlässt. Das betrifft auch unsere Gäste: Sie sind nicht einfach Hotelgäste oder Seminargäste oder Besucherinnen und Besucher von Konzerten. Sie werden einbezogen in das Gesamt der Propstei und begegnen einander. Das kommt denn zum Beispiel in einem gemeinsamen Singen, im gemeinsamen Feiern eines Geburtstags oder in einem gemeinsamen Grillabend zum Ausdruck. In welchen Bereichen orten Sie einen fehlenden Gemeinschaftsgeist in unserer Gesellschaft?

Da muss man nicht weit suchen gehen: Im täglichen Alltag! Kürzlich habe ich einen Gottesdienst in der Propsteikirche zu Beginn abgebrochen. Einige einheimische Frauen weigerten sich, eine FFP2-Maske zu tragen oder den Kirchraum zu verlassen. Sie waren nicht zu bewegen. Wie kann man ehrlich Gottesdienst feiern, wenn man nicht bereit ist, die minimalsten Schutzmassnahmen mitzutragen und in Solidarität Verantwortung wahrzunehmen? Wieso fehlt es der Kirche an Frauen in der Leitung? Die Frauen sind seit jeher in unserer Gesellschaft verachtet worden, das heisst, es wurde an ihnen vorbeigeschaut, denn sie zählten nicht. Die Nichtbeachtung von Frauen hat im Laufe der Jahrhunderte sogar noch zugenommen. Die Verachtung der Frauen scheint so etwas wie eine kulturelle Konstante in unserer Gesellschaft zu sein. Die Religionen spielen hierbei auch eine unrühmliche Rolle in der Unterdrückung der Frauen. Es stimmt allerdings nicht, dass die Verachtung der Frauen in der Bibel begründet ist. Jesus etwa hat den Frauen eine überaus grosse Beachtung geschenkt und stand ihnen sehr nahe. Frauen waren die ersten, denen der Auferstandene erschien. Ist es vorstellbar, dass Reformen innerhalb der katholischen Kirche eines Tages zur Gleichberechtigung von Frau und Mann führen? Ich setze grosse Hoffnung auf Papst Franziskus und den eingeleiteten synodalen Prozess, an dem alle Getauften sich engagieren sollen. Die Taufe ist das wichtigste Sakrament, auf ihm baut auch die Priesterweihe auf. Wenn man die Taufe wirklich ernst nimmt, kann man Frauen gar nicht den Männern unterordnen – auch nicht in der Kirche. Wo hat es Reformbedarf in der katholischen Kirche? Wir dürfen die Kreativität der Tradition neu entdecken. Im Bregenzerwald habe ich ein grossartiges Bild entdeckt für eine lebendige Tradition: Die Handwerkskunst ist dort seit Jahrhunderten auf dem Weg (Br. Kaspar Moosbrugger, der Architekt der Einsiedler Klostergebäude gehört dazu) und kann ihren Gang offensichtlich mit der Zeit mithalten. Das geht mir auf, wenn ich mit dem Bus im Bregenzerwald unterwegs bin. In der Kirche sind wir auf diesem Weg leider in verschiedenen Bereichen stehengeblieben. Das führt dazu, dass gewisse Traditionen in vergangenen Jahrhunderten stehengeblieben sind und – ausser für Insider – vor allem, wenn überhaupt, musealen Charakter haben. Die Verantwortlichen unseres Bistums Feldkirch sind auf inspirierende Weise bemüht, aus allem Festgefahrenen herauszufinden und lebendige Tradition – Treue zu Jesus Christus in unserer Zeit – zu leben. Ich freue mich, dass wir als Propstei dazu immer wieder etwas beitragen dürfen. Aktuell ist es ein Anstoss, bei den Pfarrgemeinderatswahlen im März 2022 einen neuen Weg zu wagen, und zwar über die Entscheidung per Los. Sie möchten in einem Kurs versuchen, bei den Bienen zur Schule zu gehen. Was lernen Sie von den Bienen? Wir lernen von den Bienen einiges über Kommunikation. Die Bienen kommunizieren mit dem Schwänzeltanz auf faszinierende Art und Weise den anderen, wo der Weg zum besten Futterplatz hinführt. Aber wir lernen von den Bienen auch allerhand über die Demokratie. «Si sapis, sis apis»: Wenn du schlau sein willst, sei eine Biene. Bei Bienen können wir lernen, wie der Temperaturausgleich zwischen draussen und drinnen geschehen kann. Diese Liste könnte noch lange weitergeführt werden. Sie leben hier mitten im Paradies, mit Kühen und Pferden, in einer traumhaften Landschaft. Fehlt es Ihnen an gar nichts? Gerade jetzt, wo viele Menschen sich der Verantwortung für die Schöpfung bewusst werden, lässt die Anbindung an den öffentlichen Verkehr noch viel zu wünschen übrig. Daran arbeiten wir gerade (lacht). Die Vorarlberger sind meist mit dem Auto unterwegs. Als überzeugter Nichtbesitzer eines Führerscheins bin ich fest daran, die Bevölkerung hier zusammen mit anderen für das Anliegen zu sensibilisieren. Ich bin meistens per Autostopp unterwegs. Kürzlich hat mich sogar der Leichenwagen mitgenommen. Wohin bewegt sich die Welt?

Ein Auferschrecken erfasst mich, wenn ich den Lauf der Welt beobachte. Mit Hilfe der Demokratie geschieht an verschiedenen Orten eine Untergrabung der Demokratie. Die ständige Aufwiegelung von gutmütigen Menschen führt – wie der Ansturm auf das Parlament am 6. Januar in den USA gezeigt hat – selbst in der grössten Demokratie zu Zerstörung und Totschlag. Ernüchternd ist das Nein in der Schweiz zum CO2-Gesetz. Das aber entbindet niemanden von der Verantwortung. Wenn wir unsere Verantwortung in Liebe zur Schöpfung wahrnehmen, kommt das allen zugute.

Pater Martin Werlen auf dem Friedhof der Propstei St. Gerold. Um den Friedhof ist eine Lehmstampfmauer gelegt. Diese Lehmmauer steht als Grabstein für alle Toten, die auf dem Friedhof begraben sind: Der Mensch ist Lehm und wird wieder zu Lehm. Foto: Magnus Leibundgut

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