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Als die Wädenswiler zu Fuss nach Einsiedeln pilgerten

Als die Wädenswiler zu Fuss nach Einsiedeln pilgerten Als die Wädenswiler zu Fuss nach Einsiedeln pilgerten

Seit jeher hat das Kloster Einsiedeln die Menschen angezogen. In Wädenswil machten sich in früheren Zeiten die Pilger vornehmlich zu Fuss auf den Weg ins Klosterdorf – auf der Einsiedlerstrasse. Dann wandelte sich der Pilgerweg zusehends in eine Industriestrasse.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Am Anfang war ein Pilgerstrom, der sich auf der Einsiedlerstrasse in Richtung Klosterdorf bewegte. Und das ausgerechnet im reformierten Wädenswil? Bereits früh hat sich das Bauerndorf Wädenswil in eine Industriestadt verwandelt und damit Arbeiter aus vornehmlich katholischen Ländern angezogen. Und so pilgern denn bereits im 19. Jahrhundert viele Katholiken von Wädenswil nach Einsiedeln, zur Schwarzen Madonna im Kloster.

Die Strasse wurde im Jahr 1865 als Reidholzstrasse gebaut, ein Weg, der entlang des Reidbachweihers in Richtung Richterswil verläuft. «Der Name Reidbach ist abgeleitet vom mittelhochdeutschen Adjektiv reit›, was gedreht, gekräuselt, gekrümmt bedeutet», erklärt Peter Ziegler, Historiker aus Wädenswil: Der Bach fällt denn in der Tat durch seine vielen Krümmungen auf, die namengebend wurden. In einem Zeitungsinserat aus dem Jahr 1874, Eröffnung der Wirtschaft «Zur Brauerei », wird bereits die Einsiedlerstrasse erwähnt. In der Eisenbahn statt zu Fuss

Im Jahr 1877 nimmt die erste der beiden Vorläuferinnen der «alten» Südostbahn den Betrieb auf: Die Wädenswil-Einsiedeln- Bahn (WE). Mit dem Bau der Bahn versiegt der Pilgerstrom auf der Einsiedlerstrasse: Die Pilger sind fortan mit der Eisenbahn ins Klosterdorf unterwegs, statt die knapp zwanzig Kilometer lange Distanz zu Fuss zu gehen. Wen erstaunt es: So sind doch immerhin 480 Höhenmeter zu bewältigen, wer sich zu Fuss auf den Weg macht von Wädenswil nach Einsiedeln.

In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebt Wädenswil im Zug der Industrialisierung einen starken Aufschwung und wird bereits damals zur drittgrössten Gemeinde im Kanton Zürich. Das bekommt auch die Einsiedlerstrasse zu spüren: Sie fungiert zunehmend als Zulieferungsverbindung für das Industriequartier, hat eine grosse Bedeutung für die Entwicklung der Textilindustrie und ist deren Auf und Ab gleichermassen unterworfen.

Studenten statt Arbeiter Unterdessen sind keine mit Kohle beladenen Ochsenfuhrwerke mehr in die Tuchfabrik unterwegs. Statt Arbeiter sind Studenten auf der Einsiedlerstrasse zu sehen: Im Campus Reidbach hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ihr Departement Life Sciences und Facility Management untergebracht.

Wohl kaum eine Strasse in Wädenswil hat den Wandel der Zeit dermassen pointiert miterlebt wie die Einsiedlerstrasse: Aus einem Pilgerweg wird eine Industriestrasse, die statt Bauernhöfe Fabriken verbindet. Vor allem das Publikum auf der Strasse hat sich verändert. Statt dass Pilger ins Klosterdorf oder Arbeiter in die Fabriken strömen, bewegen sich Studenten in ihre Ausbildungsstätten.

Der Weg ist das Ziel

Peter Ziegler lebt direkt an der Einsiedlerstrasse: «Viel Verkehr gibt es vor allem dann, wenn der Verkehr wegen eines Unfalls auf der A3 via Einsiedlerstrasse umgeleitet wird», sagt der 83-jährige Historiker: «Oder wenn die Seestrasse wegen der Räbechilbi in Richterswil gesperrt wird.» Von einer Raserstrecke will Ziegler nicht sprechen: Vor seiner Haustüre befindet sich eine Tempo-50-Zone. Weiter oben hingegen, wenn die Einsiedlerstrasse nach der Kurve beim Reidbachweiher Richtung Ruine Alt-Wädenswil verläuft, nehmen die Autofahrer Tempo auf: Wer im Wald die Einsiedlerstrasse queren will, muss sich sputen und sollte nicht stürzen.

Auf einem wahren Spiessrutenlauf sind denn Spaziergänger und Wanderer unterwegs, welche die Strasse in Richtung der Burg überqueren wollen: Mit mindestens achtzig Stundenkilometern oder manchmal gar mehr sausen die Autos die Einsiedlerstrasse entlang. Und keine Spur von einem Fussgängerstreifen.

Wie wundersam beschaulich war das doch damals, als Kutschen, Ochsenfuhrwerke und Pilgerzüge die Strasse bevölkerten: Keine Eile weit und breit – und doch haben alle ihr Ziel erreicht. Einige sind gar bis ins Klosterdorf Einsiedeln vorgestossen.

Die Einsiedlerstrasse hiess ursprünglich Reidholzstrasse und war ein Pilgerweg, auf dem die Gläubigen von Wädenswil ins Kloster Einsiedeln wanderten (Aufnahme 1909).

Fotos: Archiv Peter Ziegler, Wädenswil

Direkt unterhalb der Einsiedlerstrasse befindet sich der Giessbachfall: Dieser Wasserfall gilt als höchster Wasserfall im Kanton Zürich.

Auf einem Plan aus dem Jahr 1830 ist erkennbar, wie sich die Strasse von Giessen via Reidbachweiher Richtung Eichenmühle windet.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts diente die Einsiedlerstrasse zunehmend als Zulieferungsverbindung für das Industriequartier: Ein Ochsenfuhrwerk transportiert im Jahr 1939 Kohle zur Tuchfabrik.

Im Jahr 1877 nimmt die erste der beiden Vorläuferinnen der «alten» Südostbahn den Betrieb auf: Die Wädenswil-Einsiedeln-Bahn (WE). Mit dem Bau der Bahn versiegt der Pilgerstrom auf der Einsiedlerstrasse: Die Pilger sind fortan mit der Eisenbahn ins Klosterdorf unterwegs. Fotos: Magnus Leibundgut

Die Einsiedlerstrasse im Jahr 1906: Sie geht im untersten Teil in die Seestrasse über. Links ist die Rosshaarspinnerei Schnyder zu sehen.

Wo sich in früheren Zeiten die Textilindustrie an der Einsiedlerstrasse ausbreitete, befindet sich heute das Tuwagareal mit diversen Betrieben und der ZHAW.

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