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Eisfreier Sihlsee, apere Hänge, leere Hotelzimmer – wie der Klimawandel Einsiedeln heimsucht

Eisfreier Sihlsee, apere Hänge, leere Hotelzimmer – wie der Klimawandel  Einsiedeln heimsucht Eisfreier Sihlsee, apere Hänge, leere Hotelzimmer – wie der Klimawandel  Einsiedeln heimsucht

Der 19-jährige Nikola Bösch hat mit seiner Maturaarbeit die Klimaveränderung in der Region Einsiedeln nachgewiesen. Die Arbeit zeigt auf, wie der Wandel des Klimas Fauna und Flora im Klosterdorf verändert und gleichsam das Leben der Einsiedler in andere Bahnen lenkt.

MAGNUS LEIBUNDGUT

Wieso steigt in Einsiedeln die Temperatur noch stärker an als im globalen Mittel? Wegen der Albedo, eines Rückstrahlvermögens. Der Grund für den stärkeren Temperaturanstieg liegt in der in Einsiedeln veränderten Albedo: Von einer hohen bei Schnee und Eis zu einer tiefen bei Wasser oder Erde. Da der Schnee im Winter nicht mehr liegen zu bleiben vermag, sprich Einsiedeln schneefrei ist, sinkt die Albedo.

Was heisst das konkret?

Die Albedo ist überall auf der Erde vorhanden. Bei uns ist das Rückstrahlvermögen höher als am Äquator. Da mit dem Fernbleiben von Schnee und dem Schmelzen der Gletscher die Albedo vermindert wurde, wird nun mehr Wärme absorbiert, sprich aufgenommen, was zu einer höheren Erwärmung führt, da sich die Albedo im Vergleich am Äquator nicht verändert hat.

Seit wann wird im Klosterdorf das Wetter beobachtet?

Eine wissenschaftliche Wetteraufzeichnung gibt es in Einsiedeln seit 1864: Seit diesem Jahr gibt es im Kloster eine Wetterstation. Heute steht diese auf der Klosterwiese beim Militärspital und wird von der Schweizerischen Meteorologischen Anstalt (SMA) betrieben. Wir haben also in Einsiedeln eine nahezu lückenlose Reihe von Wetterdaten seit 156 Jahren. Und somit einen Einblick in die vom Menschen beeinflusste Klimaperiode. Doch bereits in früheren Zeiten wurde im Klosterdorf das Wetter beobachtet. So wissen wir etwa, dass im Jahr 1645 ein extremes Orkantief wirkte. Sicherlich genug extrem, um schriftlich festgehalten zu werden.

Werden die Tage oder die Nächte im Vergleich wärmer in Einsiedeln?

Es ist anzunehmen, dass sich die Nächte stärker erwärmen als die Tage. Dies hat mit dem Treibhauseffekt zu tun, der sich in der Nacht noch stärker als am Tag bemerkbar macht. Die langwellige Wärmeausstrahlung der Erdoberfläche wird durch die zusätzlichen Treibhausgase absorbiert. Dadurch entsteht ein zusätzlicher Energiefluss in allen Raumrichtungen, als auch gegen den Erdboden. Sicherlich spielt auch in dieser Frage der Schnee eine Rolle: Mit Schnee sinkt in der Nacht die Lufttemperatur bei Weitem stärker ab als ohne. Eine Wirkung von Albedo: Bei weniger Schnee wird mehr Strahlung und Wärme gebunden. Wird im Klosterdorf der Sommer oder der Winter wärmer im Vergleich beziehungsweise der Frühling oder der Herbst? Der Winter schwingt hier obenaus – mit einem Temperaturanstieg von 2,2 Grad. Im Frühling beträgt dieser 2 Grad. Der Herbst folgt mit einem Anstieg von 1,5 Grad. Am Schluss kommt der Sommer, in dem es 1,4 Grad wärmer wird im Vergleich zur Norm. Im Schnitt ist es seit der vorindustriellen Zeit um 1850 knapp zwei Grad wärmer geworden global betrachtet.

Wieso hat sich der Frühling stärker erwärmt als der Herbst? Dies liegt an der Albedo. Da der Schnee immer weniger lang liegen bleibt – im Vergleich zu früheren Jahren nicht nur im Winter, sondern auch im Frühling – ist das Rückstrahlvermögen eben nicht mehr so hoch wie einst: So wird denn im Frühling mehr Wärme absorbiert – und dadurch ein stärkerer Temperaturanstieg gemessen. Haben wir hier bald ein Klima wie am Mittelmeer? Einsiedeln hat ein humides, nasses Klima, das sich etwa von einem maritimen Klima klar unterscheidet. Unterdessen ist festzustellen, dass im Sommer weniger, im Winter dafür mehr Niederschlag fällt: Durch den Klimawandel nähert sich das Einsiedler Klima einem maritimen Klima an, da im Sommer Niederschläge abnehmen (aride Verhältnisse) und im Winter Niederschläge zunehmen (humide Verhältnisse). Fällt mehr oder weniger Niederschlag in Einsiedeln? Insgesamt zeigt die Entwicklung, dass in Einsiedeln die Gesamtmenge der Niederschläge leicht gestiegen ist. Auffällig ist, dass es zu weniger Regentagen kommt, an denen dafür ein intensiverer Niederschlag. Das passt zum Trend der immer häufigeren Wetterextremen: Abnahme der Anzahl Regentage und eine Verschiebung hin zu Starkniederschlägen.

Lässt sich belegen, dass Wetterextreme in Einsiedeln häufiger zu beobachten sind? Eindeutig ja. Die Orkane im letzten Winter oder der trocken-heisse Sommer 2018 sprechen eine klare Sprache. Höhere Temperaturen führen zu mehr Energie im System, was die globalen meteorologischen Prozesse massgeblich beeinflusst. Es kommt zu mehr Hagel, mehr Gewittern, mehr Stürmen und längeren Trockenperioden.

Kommt es auch häufiger zu Bisen- und Föhnlagen? Angesichts der steigenden Zahl an Gewittern, Orkantiefs und Wetterextremen kann man sagen, dass auch Bisen- und Föhnlagen häufiger auftreten. Jedenfalls nehmen die Windstärken von Föhn und Bise zu. Allerdings ist Einsiedeln in Sachen Föhn ein Spezialfall: Obwohl das Klosterdorf in einer klassischen Föhnregion in den Voralpen liegt, wird der Südwind hierzulande ziemlich ausgebremst. Einsiedeln liegt nicht in einem Tal mit Nord-Süd-Ausrichtung, sondern in einem Talkessel. Südlich davon liegt ein Riegel, eine Kette von Bergen, die den Föhn nicht richtig durchbrechen lassen. Am Sihlsee weht oftmals höchstens ein laues Lüftlein: Dieser See eignet sich denn bestens zum Rudern, weil er oft sehr ruhig daliegt.

Zwischen 1970 und 1990 gab es viel Neuschnee. Wieso? Damals herrschte oft eine negative Nordatlantische Oszillation (NAO) vor. Es kam zu massiven kontinentalen Kaltluftvorstössen aus Skandinavien oder Sibirien, die in Europa kalte Winter mit Schneefall erzeugten. Anders verhält es sich bei einer positiven NAO wie im letzten Winter, wenn sowohl Azorenhoch als auch Islandtief gut ausgebildet sind: Dann kommt es zu einer Westwinddrift, einem Jetstream, der milde und feuchte Luft nach Europa führt. Oftmals stellen sich dann schnell wechselnde Grosswetterlagen ein, es kommt zu vielen Stürmen. Gibt es Indizien, dass der Golfstrom zusammenbricht? Der Golfstrom ist noch nicht zusammengebrochen, aber bereits schwächer geworden. Er könnte dereinst ganz unterbrochen werden: Weil es immer wärmer wird, schmilzt mehr Eis. Mehr Süsswasser verändert den Salzgehalt im Meerwasser und senkt somit dessen Dichte. In der Folge wird das Förderband, die Pumpe, die warmes Wasser vom Golf nach Nordwesteuropa transportiert, gestoppt. Dies würde zu einer Abkühlung des Klimas in Europa führen.

Es wird also in Europa kälter, weil es weltweit wärmer wird?

In der Tat. Die Klimaveränderung hat hier eine paradoxe Wirkung: Durch höhere Temperaturen schmilzt zuerst der grönländische Eisschild ab, was schliesslich den Golfstrom abbrechen lässt, was wiederum zu einer neuen Eiszeit in Europa führen könnte. Bei uns würde ein Klima herrschen wie damals während der Kleinen Eiszeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert.

Wie wirkt sich der Klimawandel auf den Einsiedler Wald aus? Es findet eine signifikante Verschiebung der Baumarten statt: Nadelbäume ziehen sich in höher gelegene Regionen zurück und werden durch Laubbäume ersetzt. Fichten und Buchen können mit dem sich rasch verändernden Klima kaum Schritt halten und erleiden Hitzeschäden. Ihnen ist es zu warm und zu trocken geworden in unseren Gefilden, währenddem Tanne und Eiche prächtig gedeihen, wenn es nicht mehr so feucht und kalt ist. Profitiert auch der Borkenkäfer vom Klimawandel? In früheren Zeiten war der Borkenkäfer überhaupt kein Thema im Raum Einsiedeln. Neuerdings ist er auch in den hiesigen Bäumen anzutreffen und hinterlässt grössere Schäden. Der Buchdrucker befällt Bäume, die durch die Trockenheit angeschlagen sind oder von Stürmen heimgesucht wurden. Ein Thema, das die Förster im Klosterdorf nur zu gut kennen. Gehören auch die Zecken zu den Nutzniessern der Klimaveränderung?

Früher war davon auszugehen, dass Zecken auf einer Höhe von tausend Meter nicht anzutreffen waren. Einsiedeln gehörte schlicht nicht zur Zecken-Risikozone. Nun treten auch hier FSME und Borreliose auf. Zecken bevorzugen wärmere Temperaturen. Je milder es bei uns wird, desto höher hinauf kommen sie. Es gilt also aufzupassen, wer durch die Einsiedler Wälder streift.

Welche Tier- und Pflanzenarten sind in Einsiedeln durch die Klimaveränderung gefährdet?

Äschen und Bachforellen haben es schwer, weil diese Fischarten, die in Bächen und Flüssen leben, kühleres Wasser bevorzugen. Die Fische im Sihlsee gedeihen währenddem prächtig, weil sich dieser See noch nicht übermässig erwärmt im Sommer. Naturgemäss gibt es Tierarten wie der Hase, die sterben aus, weil sich die Landschaft verändert. Da spielt der Klimawandel nur eine untergeordnete Rolle. Auch das Aussterben von Insekten und Amphibien gehört in diese Kategorie. Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Landwirtschaft in der Region aus?

Da kommen grössere Veränderungen mit schweren Folgen auf die Bauern zu. Wasser wird für die Landwirte zum grossen Thema. Und für uns alle – mit dem Wegschmelzen der Gletscher verschwindet das Wasserschloss Schweiz. Die Frage stellt sich, wie Bauern mit der überhandnehmenden Trockenheit umgehen können. Es stellt sich die Herausforderung, Wasser heranzutransportieren. Missernten könnten die Folge sein, wenn Wetterextreme weiter zunehmen. Allerdings spielt der Ackerbau in Einsiedeln keine grosse Rolle.

Wie wirkt sich die Klimaveränderung auf den Tourismus in Einsiedeln aus?

Auf den Wintertourismus im Klosterdorf hat der Klimawandel desaströse Folgen, weil sich die Schneefallgrenze nach oben verschiebt und keine Schneesicherheit mehr besteht. Wenn kein Schnee mehr fällt, bleiben Skilifte und Loipen naturgemäss geschlossen. Ohne Kunstschnee geht gar nichts mehr – und auch für den allfälligen Einsatz von Kunstschnee darf es nicht zu warm sein. Spielen auch gesellschaftliche Gründe eine Rolle, dass sich der Tourismus im Sinkflug befindet? Durchaus. Denn hinzu kommt, dass Wallfahren und Skifahren etwas aus der Mode geraten sind. Der Glauben spielt nicht mehr so eine grosse Rolle wie früher. Und Schneemangel im Unterland führt dazu, dass die Leute nicht animiert sind, überhaupt Wintersport zu betreiben. Hinzu kommt, dass Einsiedeln einfach zu wenig ausgeflippt ist, um grosse Touristenscharen anzulocken. Die gehen lieber nach Davos oder Laax oder Zermatt. Im Hoch-Ybrig gibt es zwar Schneekanonen, aber ein zweites Ischgl wird nicht daraus.

Wie würden Sie die Quintessenz Ihrer Arbeit beschreiben? Die statistische Auswertung der Wetterdaten ergibt, dass der Klimawandel auch in Einsiedeln Realität ist. Denn Zahlen lügen nicht. Was morgen für Verhältnisse vorherrschen, liegt in unseren Händen. Bereits vor zwanzig Jahren hat der Dokumentarfilm «Eine unbequeme Wahrheit» über den Kampf von Al Gore gegen die globale Erwärmung auf den Punkt gebracht: Wenn jetzt nicht gehandelt wird und CO2-Emissionen gestoppt werden, droht eine grosse Katastrophe über die Menschheit zu kommen. Haben Sie in der Tat Hoffnung, dass die Menschheit den Klimawandel noch stoppen kann? Ja. Just die Corona-Krise bringt Hoffnung, weil sie aufzeigt, mit welchen Massnahmen in kürzester Zeit Grosses bewirkt werden kann. Auch wenn die Klimaziele auch im Jahr 2020 nicht erreicht werden. Ironie des Schicksals ist, dass das Runterfahren der Wirtschaft aufgezeigt hat, was wir alles der Natur antun. Nur schon die ganze Vielfliegerei schadet der Erde rundum massiv. Dringend muss der Verkehr vom Auto auf den öV verlagert werden. Einsiedeln könnte etwa touristisch profitieren davon, wenn die Leute weniger in der Welt herumfliegen und stattdessen Ferien vor der Haustüre machen: zum Beispiel im Klosterdorf.

Was bleibt zu tun?

Es braucht nun eine Veränderung unserer Lebensgewohnheiten, ein Umdenken, was den Umgang mit unseren Ressourcen betrifft. Diese Anpassung muss gar nicht mit einem totalen Verlust von Lebensqualität in Verbindung gebracht werden. Die Gebäudeisolation in der Schweiz etwa zeigt auf, mit welcher Massnahme Wärmedämmung gelingen kann – ohne dass die Qualität des Lebens darunter leiden muss. Welche Motivation hat Sie zum Verfassen dieser Arbeit gebracht?

Der Klimawandel mit einer globalen Erwärmung von zwei Grad innerhalb von kaum 200 Jahren ist menschengemacht. Mit meiner Arbeit versuche ich, den Klimawandel in Einsiedeln nachzuweisen. Und mit Wissenschaft den Irrglauben zu bekämpfen, die Klimaveränderung gebe es nicht oder sie sei natürlichen Ursprungs. Fake News vonseiten der Klimaleugner gilt es entschieden entgegenzutreten. Meine Arbeit ist auch Ausdruck einer Klimabewegung, einer Klimajugend, die sich mit allen Mitteln für den Fortbestand unserer Erde einsetzt und der ich selbstredend angehöre.

Sie haben mit dieser Arbeit Preise gewonnen: Sind Sie überrascht worden davon? Ich freue mich riesig, mit meiner Maturaarbeit den zweiten Preis von Alumni Stiftsschule Einsiedeln gewonnen zu haben. Zudem freut es mich, dass meine Arbeit vor einer Woche im Rahmen des nationalen Wettbewerbs «Schweizer Jugend forscht» mit dem Prädikat «sehr gut» prämiert wurde, was dem zweiten Rang entspricht. Ich habe dermassen Herzblut und Leidenschaft in dieser Arbeit gefunden, dass ich mir überlege, nach der Matura und der Rekrutenschule ein Studium der Meteorologie in Angriff zu nehmen.

Das Interview fand am 21. April statt. Der Einsiedler Maturand widmet diesen Artikel und seine Arbeit seinem kürzlich verschiedenen Grossvater. Ein Video über die Arbeit von Nikola Bösch ist zu finden unter: www.youtube. com/watch?v=WOyVhak1R9Y

Der 19-jährige Einsiedler Maturand Nikola Bösch hat mit seiner Arbeit «Nachweis des Klimawandels in der Region Einsiedeln» am nationalen Wettbewerb «Schweizer Jugend forscht» den zweiten Rang erreicht. Für seine Arbeit holte er sich Rat beim Klimaforscher Professor Thomas Stocker.

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