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Das erste Wort

Das erste Wort Das erste Wort

ZWISCHENLUEGETEN 3

Junge Eltern, frisch gebackene Grosseltern und dergleichen war-ten gespannt darauf, welches Wort ihr Sprössling als erstes verlauten lässt. Wird es «Grosi» sein, «Papi», «Hund»? Ich gehe davon aus, dass das bei mir seinerzeit auch nicht anders war. Schliesslich ist Reden etwas vom Wichtigsten, das wir Menschen lernen. Und bekanntlich reden wir so, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Mein Schnabel ist nicht in Einsiedeln gross geworden und ich töne deshalb etwas anders. Aber ich neige dazu, von Dialekten, die um mich herum gesprochen werden, die Wörter und Begriffe anzunehmen, die einfacher, vigulanter klingen, als in meiner ursprünglichen Sprache. So gesehen war es nur eine Frage der Zeit, bis mir früher oder später mal ein Wort in Einsiedler Dialekt herausrutschen musste. Wie gesagt: herausrutschen. Die Hoffnung, mein lieber Dani hätte es nicht gemerkt, zerschlug sich im Bruchteil einer Sekunde später. Was konnte der Kerl mich damit aufziehen! Im Gegensatz zu damals ist es mir längst nicht mehr peinlich und ich setze dieses Wort und alles, was man damit konstruieren kann, ganz bewusst und pointiert ein. Auch Begriffe wie «frii» und «nüü», die mir hier auf Schritt und Tritt begegnen, verwende ich genauso vorsätzlich wie etwa «Gummel». Nur mein «Grüezi» habe ich noch immer nicht abgelegt. Und nehme damit in Kauf, dass ich mich auf der Stelle oute. Aber käme es nicht einer Aneignung fremden Kulturguts gleich, wenn die Frau mit der Zürischnurre plötzlich ein fröhliches «Guet Tag» durch die Strassen Einsiedelns schmettern würde?

* Fanny Reutimann (56) ist vor bald drei Jahren aus dem Züribiet zugezogen. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sei hier nicht erwähnt, welches bedeutungsschwangere Einsiedler Wort als Erstes über ihre Lippen huschte.

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