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Triebzeit

In diesen Tagen ist die ganze Natur endlich wieder voller Frühlingsgefühle. Alle Vögel tirilieren und zwitschern und geben sich hemmungslosem Treiben und ihren Trieben hin. Also vor allem dem biologischen Fortpflanzungstrieb, der bei Vögeln noch natürlich vorkommt.

Klärli und ich haben gestern eine Amsel beobachtet, die mit grossem Eifer dürre Grashalme aus der Rasenrabatte zupfte. Mit jedem Hieb ihres Kopfes wuchs in ihrem Schnabel das Grasbüschel, mit dem sie schliesslich davonflog. Kurz darauf kam sie wieder zurück und sammelte noch einmal emsig eine Schnabelfüllung Polstermaterial für ihr Nest, das sie an sicherer Stelle für ihre Eier respektive die daraus schlüpfenden Nachkommen einrichtet.

Als mehrjährig ausgebildeter Vertreter unsere Spezies, die sich seit der Vertreibung aus dem Paradies als Schöpfungskrone versteht, staune ich immer wieder, wie selbstverständlich so ein Vogel weiss, was zu tun ist, wenn ein neues Daheim nötig wird. Dies ohne irgendwelche Ausbildung, ohne Diplom und – mindestens beim ersten Mal – ohne praktische Erfahrung. Jedem Vogel gelingt ohne Bauanleitung auf Anhieb, was unsereiner selbst mit einer IKEA-Montagehilfe nicht in nützlicher Frist so perfekt zusammenstellen könnte: Windfest im Geäst verankert, warm, bequem und weich gepolstert, sodass die Eier geschützt und die Nachkommen ungefährdet sind. Klärli und ich möchten allen Vögeln an die-ser Stelle ein grosses Kompliment machen und wünschen ihnen, dass sie für ihren Nestbau auch künftig keine Baubewilligung brauchen.

Ernst Friedli * Ernst Friedli, 64, seit 31 Jahren verheiratet mit Klärli, geborene Schönbächler. Nichtraucher und Sachbearbeiter im Rathaus, steht unter Amtsgeheimnis. Macht sich in der Freizeit Gedanken zur Weltlage und toleriert unbewilligte Bauten zu Triebzeiten.

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