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«Ambulanzen sind im Dauerstress»

«Ambulanzen sind im Dauerstress» «Ambulanzen sind im Dauerstress»

Der Rettungsdienst im Ameos Spital Einsiedeln verzeichnet 2022 ein Rekordjahr bei den Einsätzen

Der Rettungsdienst des Spitals Einsiedeln hatte im letzten Jahr viel zu tun: «Wir mussten 1319 Mal ausrücken», sagt Patrick Krauer, Leiter des Rettungsdienstes: «Damit kam es im vergangenen Jahr zu einem traurigen Rekord.»

Wie fällt Ihre Bilanz aus im Jahr 2022?

Ambulanzen sind im Dauerstress in diesen turbulenten Zeiten: Das ist in Einsiedeln nicht anders als an anderen Orten. Wir hatten im vergangenen Jahr 1319 Einsätze, im Jahr 2021 waren es 1180 und im vorletzten Jahr 1118 Einsätze: Es handelt sich also um eine signifikante Zunahme der Zahl an Einsätzen des Rettungsdienstes. Gesunken ist hingegen die Zahl der Verlegungstransporte: Während im Jahr 2021 noch ein Drittel der Einsätze Verlegungstransporte gewesen sind, machen diese im vergangenen Jahr nur noch 19 Prozent aus. Weil das Ameos Spital in Einsiedeln seine Leistungssparten laufend ausgebaut hat, müssen nun weniger Patientinnen und Patienten in andere Spitäler verlegt werden, sondern können im Klosterdorf behandelt werden. Bei den Einsätzen rückte derweil 155 Mal (zwölf Prozent) ein Notarzt mit aus.

Welcher Art waren die Unfälle und Krankheitsfälle?

Im letzten Jahr kam es wegen Unfällen zu 348 Primäreinsätzen (im Vorjahr waren es 315). Wegen Krankheitsfällen sind wir im letzten Jahr 810 Mal ausgerückt (2021 gab es hierbei 772 Primäreinsätze). Eine Folge der Corona-Pandemie ist, dass viel mehr Leute Velo fahren und langlaufen als früher: Dementsprechend ist die Zahl der Unfälle aufgrund verunfallter Velofahrer und gestürzter Langläufer angestiegen. Generell führen Unfälle beim Skifahren zu den meis-ten Einsätzen, was die Sportunfälle betrifft. Grundsätzlich sinkt die Zahl der Gehirnerschütterungen, was mit der Benützung des Helms beim Skifahren, Biken und Schlitteln zu tun hat. Festzuhalten bleibt: Unfälle machen nur einen kleinen Teil der Einsätze aus. Am häufigsten werden die Rettungsdienste wegen medizinischer Probleme und Krankheiten aufgeboten. Wieso sind medizinische Notfälle der Grund für die allgemeine Zunahme der Einsätze der Ambulanzen?

Darüber kann nur spekuliert werden. Zu vermuten ist, dass viele Patientinnen und Patienten unsicher sind und in Fällen, bei denen sie früher ihren Hausarzt kontaktiert haben, nun den Notruf wählen. Es kann zu Einsätzen der Rettungsdienste kommen, weil zuvor kontaktierte Stellen des Gesundheitswesens keine Kapazität haben und Patienten ablehnen. Das zeigt sich auch darin, dass die Anzahl der leichteren Fälle stärker zunimmt als jene der mittleren und schweren Fälle.

Wie oft mussten Sie im vergangenen Jahr wegen der Corona- Pandemie ausrücken?

Im letzten Jahr waren es wegen Corona 27 Fälle, im Jahr 2021 waren es 86 Fälle. Wir haben an der Art und Zahl der Einsätze festgestellt, dass Omikron zu Beginn des vergangenen Jahres bereits Delta verdrängt hat. Das war sehr augenfällig: Es gibt derzeit kaum noch Fälle, in denen ein Patient wegen des Coronavirus auf die Intensivstation gefahren werden muss. Omikron führt in der Regel zu milderen Verläufen, während bei Delta schwerere Verläufe zu Einsätzen geführt haben. Hinzu kommt, dass unterdessen die meisten geimpft oder genesen sind: Das führt ebenso dazu, dass die Zahl an schweren Verläufen deutlich gesunken ist.

Sind Leute aus Ihrem Team selber krank geworden?

Die meisten Mitarbeitenden des Rettungsdienstes haben sich irgendwann mit dem Coronavirus angesteckt und sind krank geworden. Ob eine Ansteckung möglicherweise bei einem Einsatz erfolgt ist, kann im Rückblick schwer gesagt werden. Die Grippewelle ist derweil spurlos an unserem Team vorbeigegangen.

Welche Art von medizinischen Notfällen sind im vergangenen Jahr häufiger aufgetreten? Wir beobachten eine steigende Zahl von Einsätzen in psychischen Krisensituationen, in denen Patienten depressiv oder suizidal sind. Das ist keine einfache Situation für das Personal: Es ist einfacher, einen blutenden Arm zu behandeln als herausfinden zu müssen, wie es einer Person in einer psychischen Krise geht und was ihr fehlen mag. Just Jugendliche mussten in der Corona-Pandemie untendurch und hatten da eine schwierige Zeit. Jetzt kommen noch der Ukraine-Krieg hinzu und die nicht allzu rosigen Zukunftsperspektiven. Dies alles wird als sehr belastend wahrgenommen. So kommt es zu mehr FU-Fällen: Die fürsorgerische Unterbringung dient dazu, Personen, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leiden oder schwer verwahrlost sind, eine Hilfestellung in Form eines stationären Aufenthalts in einer geeigneten Einrichtung zu vermitteln. Das kann durchaus vorübergehend das Spital Einsiedeln sein. Teils werden dann diese Personen in die psychiatrische Klinik Zugersee in Oberwil verlegt.

Sind im Jahr 2022 Zwischenfälle aufgetreten, in denen das Team mit aggressiven Patienten zu tun hatte? Statistisch registrieren wir keine Einsätze, an denen es zu Gewaltausbrüchen kommt. Hin und wieder mag es zu Einzelfällen kommen, in denen Patienten renitent werden. Einsiedeln liegt auf dem Land, wo ein respektvoller Umgang miteinander gepflegt wird. Naturgemäss kann es vorkommen, dass sich ein Betrunkener daneben benimmt, weil er keine Lust hat, vom Ambulanzfahrzeug in eine Intermediate Care Station (IMC-Station) eines Spitals gefahren zu werden. Doch Gewaltanwendung gegen Rettungssanitäter kennt man eher in städtischen Gebieten.

Allerorten fehlt es an Fachkräften. Werden Sie heuer mit demselben Staff unterwegs bleiben?

Die Arbeit geht uns auch in diesem Jahr nicht aus: Wir sind auch heuer mit 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterwegs, die zusammen mit den Studierenden 1410 Stellenprozente abdecken. Wir sind ein kleines, familiäres Team mit flachen Hierarchien, in dem ein guter Spirit gelebt wird und das auf eine moderne Infrastruktur und ein ideales Equipment zurückgreifen kann. Dementsprechend ist die Zufriedenheit des Personals gross: Die Fluktuationen halten sich bei uns in Grenzen. Glücklicherweise ist der Rettungsdienst des Ameos Spitals in Einsiedeln nicht von einem Fachkräftemangel betroffen – im Gegensatz zu anderen Orten, wo Rettungswagen nicht betrieben werden können, weil es nicht genügend ausgebildetes Personal gibt.

Kann es sein, dass, wenn die Zahl der Einsätze weiterhin steigt, das Personal aber fehlt, Patienten künftig länger auf einen Rettungswagen warten müssen? In Einsiedeln wird dies aufgrund unserer guten personellen Situation absehbar nicht der Fall sein. Grundsätzlich herrscht aber durchaus ein Fachkräftemangel in den Ambulanzen allerorten: Junge Leute sind in der heutigen Zeit anscheinend sehr auf ihre Work-Life-Balance bedacht und kaum mehr bereit, ausserhalb der Bürozeit nachts und an Wochenenden zu arbeiten.

Was kann gegen den Fachkräftemangel bei den Rettungsdiensten und Ambulanzen unternommen werden? Es sind dringend neue Wege zu suchen, um den steigenden und geänderten Bedürfnissen nach Einsätzen durch das Rettungswesen gerecht zu werden. Dabei sind nicht nur die Rettungsdienste oder Patienten gefordert, sondern auch die Versicherungen, Kantone und Gemeinden sowie die Ausbildungsstätten für Rettungsdienstpersonal.

Leben Sie anders als Normalsterbliche angesichts dessen, dass Sie jeden Tag mit Unglücks- und Krankheitsfällen konfrontiert sind, die mitunter auch den Tod mit sich bringen? Ich fahre nicht mehr Ski,weil ich zu viele Beinbrüche gesehen habe. Von daher ist mir bewusst, dass Skifahren ein gefährlicher Sport sein kann. Kommt hinzu, dass es aus beruflichen Gründen nicht so ideal wäre, wenn ich wegen eines gebrochenen Beines monatelang im Job ausfallen würde (lacht). Was den Tod betrifft: Wir Rettungssanitäter haben einen empathischen Umgang mit dem Tod. Es wäre schlecht, wenn uns Erlebnisse mit Todesfällen abstumpfen liessen. Der Tod lehrt uns, dass das Sterben zum Leben gehört. Wir können nicht alle Patienten retten. Im letzten Jahr hatten wir 23 Todesfälle zu verzeichnen. In meinen bisherigen 27 Dienstjahren als Rettungssanitäter bin ich in Hunderten Fällen dem Tod begegnet. Das geht mir in jedem Fall nahe. Was aber nach dem Tode kommen mag, ist nicht unser Part: Denn nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz – nach dem letzten folgt der nächste.

Foto: Magnus Leibundgut

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