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«Die Geschichte der nicht verschonten Schweiz»

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SEITENBLICK: MILITÄR UND MILIZ

FRITZ KÄLIN

An «Allerseelen» gedenken wir im November unseren Verstorbenen.Allen, die dafür den Friedhof Einsiedeln aufsuchen, sei dort ein Rundgang entlang der diversen Gedenkobjekte empfohlen. Gleich am Ende der Eingangs-Allee gedenkt unsere dankbare Waldstatt «Den Einsiedler Wehrmännern, die in Treue und Hingabe 1914–1918 für ihre Heimat starben». 15 Namen mit militärischer Einteilung, gefolgt von rund einem halben Dutzend weiteren Namen derjenigen, die 1939–1945 ihr Leben liessen. Hauptsächlich junge Menschen

Wegen der Spanischen Grippe forderte der kürzere Aktivdienst von 1914 bis 1918 deutlich mehr Soldatenleben. Dieses Virus entriss einer von vier Kriegsjahren gegeisselten Weltbevölkerung von 1918 bis 1920 in drei Wellen weltweit 20 bis 50 Millionen Menschenleben. Allein in der Schweiz kam es innert den ersten zwölf Monaten zu 24’000 Todesopfern. Ein besonderes Merkmal der Spanischen Grippe war, dass sie hauptsächlich junge Menschen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr tötete. An einen innerhalb nur eines Jahres verfügbaren Impfstoff war damals nicht zu denken. Und «social distancing» wäre für die Soldaten in den Kasernen und in ihren Stellungsräumen nicht nur des Englischen wegen ein Fremdwort gewesen.

Schon die erste Grippewelle im Juli 1918 forderte täglich 35 Todesopfer unter den damals 35’000 Aktivdienstleistenden. Und trotz Kriegsende in Europa erforderte die angespannte innenpolitische Lage in der Schweiz im November ein erneutes Grossaufgebot für einen Ordnungsdienst. Mindestens eine Viertelmillion Menschen verliehen ihren politischen Forderungen vom 12. bis 14. November im «Landesstreik» Nachdruck. Der Bundesrat setzte für den Ordnungsdienst insgesamt 95’000 Armeeangehörige ein, davon ein Drittel allein in Zürich und Bern. Dort sorgten die Soldaten nur schon mit ihrer physischen Präsenz für Ruhe auf Plätzen, auf denen sich heutzutage vergleichsweise kleine Demogruppen mit der Polizei beschämende Scharmützel liefern. Damals kam es erst am letzten Streiktag zu Konfrontationen, die leider auch einzelne Todesopfer forderten.

Besonnene Pflichterfüllung Diese zivilen und militärischen Menschenaufläufe im November 1918 fielen ausgerechnet in die zweite Welle der Spanischen Grippe. Die Hälfte der insgesamt 1805 Grippetoten der Armee verstarben im Zeitraum des Ordnungsdienstes. Die Soldaten erfüllten ihre Pflicht in Kenntnis dieses Risikos besonnen. So halfen sie der Schweiz, die vom Landesstreik thematisierten inneren Probleme, auf die ihr eigene Weise friedlich zu lösen. Deutschland glitt damals in einen heute aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängten, äusserst brutal ausgetragenen Bürgerkrieg ab. Aber auch wir Schweizer haben ein selektives historisches Gedenken.

Ein weiterer Gedenkstein

Das Einhalten der humanitären und neutralittätsrechtlichen Pflichten hat der Schweiz schmerzliche Opfer abverlangt.Vor der Spanischen Grippe forderte zuletzt eine Pockenepidemie 1870/71 ähnlich viele Opfer. Die in der Schweiz internierte Bourbaki- Armee hatte sie eingeschleppt. Auf dem Friedhof Einsiedeln erinnert ein weiterer Gedenkstein an Frankreichs Dankbarkeit dafür, dass einige seiner besiegten Soldaten in unserer Waldstatt sicher untergebracht wurden.

An «Allerseelen» nicht nur den Verstorbenen zu gedenken, die uns persönlich am nächsten sind, kann uns die Augen dafür öffnen, dass wir Menschen auch im 21. Jahrhundert eine Schicksalsgemeinschaft sind. Und seien wir dankbar, dass der letztjährige Corona-Aktivdienst unserer jungen Armee- und Zivilschutzangehörigen keine neuen Gedenksteine erfordert.

«Seien wir dankbar, dass der letztjährige Corona-Aktivdienst unserer jungen Armeeund Zivilschutzangehörigen keine neuen Gedenksteine erfordert.»

Dr. phil. I Fritz Kälin, geboren 1986 in Einsiedeln, Matura an der Stiftsschule Einsiedeln 2005. Anschliessend Lizentiat/Doktorat an der Universität Zürich 2012/2016. Kälin ist Experte für Sicherheitspolitik und Militärgeschichte und im militärischen Rang als Fachoffizier (Hauptmann) tätig.

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