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«Der schlimmstmögliche Fall wäre das Abriegeln ganzer Städte»

«Der schlimmstmögliche Fall wäre  das Abriegeln ganzer Städte» «Der schlimmstmögliche Fall wäre  das Abriegeln ganzer Städte»

VICTOR KÄLIN

Um ein Haar wäre die Frühlingssession abgebrochen worden. Was war da los? Der Fraktionspräsident der SVP hat am Sonntagabend allen Parlamentsmitglieder ein SMS geschickt, dass er am Montag bei Sitzungsbeginn einen Antrag stellt, die Session wegen des Coronavirus’ abzubrechen. Er hat dies im Alleingang gemacht und nicht einmal mit seinen Fraktionsmitgliedern abgesprochen. Dementsprechend gering war die Unterstützung. Mit 155 zu 13 entschied das Parlament, die Session fortzusetzen. Hätten Sie die Session abgebrochen?

Nein. Das hätte in der Schweiz eine noch grössere Hysterie ausgelöst. Das Leben muss weitergehen. Die Parlamentarier haben ihre Arbeit zu machen wie alle anderen Leute in der Schweiz. Sie sind seit 2011 Bundesparlamentarier. Gab es in diesen Jahren überhaupt einmal einen Unterbruch, geschweige denn einen Abbruch?

Einen Unterbruch geschweige denn einen Abbruch hat es in meiner Zeit noch nie gegeben. Dennoch macht das Coronavirus auch vor Bundesbern nicht haltbar. Wie macht es sich bei der Arbeit als Parlamentarier bemerkbar? Das Bundeshaus ist für Besucher gesperrt, infolgedessen ist es ungewohnt ruhig in den Wandelhallen, aber auch im Café Valloton und im Bundeshausrestaurant Galérie des Alpes hat es fast keine Gäste. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier bleiben unter sich. Wir gehen weniger auswärts, sondern verpflegen uns im Haus. Das hat dazu geführt, dass schon am Montagabend das Einsiedler-Bier ausgegangen ist. Die Traktandenliste wird ganz normal abgearbeitet. Wir sind mit der Behandlung der Geschäfte weder im Vorsprung noch im Rückstand.

Fühlen Sie sich sicher?

Ich fühle mich sicher und versuche, die Verhaltensregeln des Bundesamtes für Gesundheit einzuhalten. Infolgedessen wasche und desinfiziere ich vermehrt meine Hände. Es gibt auffallend wenig Absenzen unter den Räten. Persönlich habe ich einen leichten Husten, was prompt der Ratspräsidentin Isabelle Moret aufgefallen ist. Über unseren Fraktionschef liess sie sich erkundigen, ob es mir gut gehe. Ich konnte sie beruhigen. Jedes Niessen oder Husten im Parlament fällt momentan auf, obwohl dies eigentlich normal wäre. Das Coronavirus beschäftigt auch politisch. Die SVP-Fraktion zum Beispiel fordert eine Schliessung der Grenze zu Italien. Was halten Sie davon? Momentan geht es darum, die Anzahl der Ansteckungen zu minimieren, damit die Epidemie infrastrukturmässig und personell bewältigt werden kann. So oder so wird es aber zu Erkrankungen kommen. Wir müssen aufpassen, dass nicht alles lahmgelegt wird, sonst verursachen wir einen unreparierbaren wirtschaftlichen Schaden. Wenn die Grenzen zu Italien geschlossen würden, würde wichtiges Personal in den Gesundheitseinrichtungen fehlen, was wiederum für die Bewältigung der Krise problematisch wäre Die Massnahmen des Bundes legen das halbe öffentliche Leben lahm. Finden Sie die bisher getroffenen Anordnungen angemessen? Liefert der Bund, der Bundesrat einen guten Job? Das Krisenmanagement des Bundes ist sehr gut und durchdacht. Der Bundesrat macht einen guten Job. Die Anordnungen sind angemessen. Ich bin aber der Ansicht, dass die Massnahmen der Kantone besser koordiniert werden sollten. Den Kantönligeist zu pflegen, ist in dieser Sache nicht angebracht. Was wäre für Sie als Schweizer und als Nationalrat der Worst-Case in Sachen Corona- Massnahmen? Wenn in der Schweiz das eintreffen würde, was in Italien passiert und ganze Städte abgeriegelt werden müssten. Sprechen die Parlamentarier über mögliche Szenarien? Ja. Ich war am Mittwochnachmittag an einer Sitzung der Gruppendelegationsleiter Finanzen der Finanzkommission. Wir wollten wissen, ob es nötig ist, dementsprechend Finanzen zur Verfügung zu stellen, damit die Krise auch wirtschaftlich bewältigt werden kann. Ob es allenfalls eine Option sein könnte vom 3 Milliarden-Überschuss des letzten Jahres einen Betrag zur Verfügung zu stellen. Der Bundesrat wird uns über seine Pläne nächste Woche orientieren.

Verlassen wir fürs Erste das Virus. Der Nationalrat hat entschieden, die unbegleiteten klimafreundlichen Kombiverkehre durch die Alpen weiterhin fördern zu wollen – als wichtiges Instrument zur Verlagerung auf die Schiene. Woran haperts, dass das Umsteigen auf den Zug weiterhin subventioniert werden muss? Deutschland hatte den Ausbau der Rheintalbahn bis 2021/22 in Aussicht gestellt. Die geplante Fertigstellung, der einen eigenwirtschaftlichen kombinierten Verkehr möglich machen würde, wird aber nicht vor 2030 erfolgen. Es kann auf dieser Strecke weniger Fahrzeit eingespart werden, zudem machen viele international unkoordinierte Baustellen die Strecke nicht attraktiv. Deshalb können mit Subventionen die Nachteile entschärft werden. Mehr Rechtssicherheit für «Whistleblower» bleibt nach wie vor Wunschdenken. Der Nationalrat hat eine entsprechende Vorlage abgelehnt. Wie soll man Ihrer Meinung nach mit jenen Personen umgehen, die Unregelmässigkeiten am Arbeitsplatz öffentlich machen? Leider ist die Vorlage zum Schutz für Whistleblower gescheitert. Der Ratsrechten ging die Vorlage zu weit, der Ratslinken zu wenig weit. Deshalb scheiterte die Vorlage und die fast zehnjährige Kommissionsarbeit war umsonst. Die Mitte konnte sich nicht durchsetzen. Da in dieser Angelegenheit Rechtssicherheit geschaffen werden sollte, habe ich die Vorlage unterstützt. Von grosser Bedeutung sind die Überbrückungsleistungen. Von diesem Sozialausbau profitieren Langzeitarbeitslose, die älter als 60 sind. Die Grosse Kammer folgte mit 99 Ja- zu 95 Nein-Stimmen dem Ständerat, welcher die Rente gegen oben allerdings begrenzen will. Teilen Sie diese Haltung? Ich habe die Ständeratslösung unterstützt. Es kann nicht sein, dass eine Übergangsrente von gegen 5500 Franken und zusätzlich die Gesundheitskosten bezahlt werden. Ich habe Mühe mit dieser Vorlage, weil man merkt, dass sie unter Zeitdruck erarbeitet worden ist und nicht alles sauber abgeklärt werden konnte. So hebelt sie zum Beispiel Abmachungen in Gesamtarbeitsverträgen aus. Es wird ein neues Sozialwerk geschaffen, obwohl bestehende Werke finanziell noch nicht saniert sind. Um die Begrenzungsinitiative zu bodigen, übernimmt der Bund Kosten, die bis anhin mit den Ergänzungsleistungen die Gemeinden übernommen haben. Wellen geworfen hat die Crypto- Affäre. Bei der Aufarbeitung gingen die Meinungen auseinander. Das Büro des Nationalrates jedenfalls hat sich gegen die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission PUK ausgesprochen. Wie ist Ihre Meinung? Ich bin gegen eine PUK, da die Geschäftsprüfungsdelegation die gleichen Kompetenzen hat. Sie wurde für solche Untersuchungen geschaffen und hat ihre Arbeit schon aufgenommen. Ihre Abklärungen werden ebenso seriös gemacht, wie sie eine PUK machen würde.

Alois Gmür

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