«Den Gletschern geht es sehr schlecht»
Interview mit dem Einsiedler Glaziologen Martin Lüthi zur Faszination von Gletschern in Grönland und den Alpen
Im Zürcher Landesmuseum hat eine neue Ausstellung über die Grönland-Expedition des Schweizers Alfred de Quervain eröffnet. Der Einsiedler Glaziologe Martin Lüthi (52), der am Konzept der Gletscherschau beteiligt ist, machte mit unserer Zeitung einen Rundgang und erklärt im Interview die Bedeutung.
WOLFGANG HOLZ
Was kann die Ausstellung über Grönland einem Glaziologen aus Einsiedeln vermitteln? Die Ausstellung zeigt sehr schön den Zeitgeist um die Jahrhundertwende auf, der auch geprägt war vom Heldentum und der Abenteuerlust. Insbesondere die Grönland-Expedition 1912 begeisterte die Öffentlichkeit, weil ein Forscher wie Alfred de Quervain versuchte, die letzten weissen Flecken auf der Landkarte zu entdecken. Inwiefern sind Sie an der Ausstellung beteiligt? Wir von der Universität Zürich lieferten Material, das die Wichtigkeit der damaligen Forschung von de Quervain unterstreicht. Fotos zum Beispiel von Gletschern, Grafiken sowie die Animation eines kalbenden Gletschers auf Grönland. Es ist sehr schön, dass wir unser Material zu dieser Ausstellung beitragen konnten und dass dieses nun an so einem zentralen Ort wie dem Landesmuseum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Waren Sie selbst schon einmal in Grönland?
Ja, ich war schon ungefähr 15 Mal auf Grönland. Wir machen dort von der Universität Zürich aus jeden Sommer Messkampagnen in Form von Feldarbeit. Wir untersuchen dabei unter anderem die sehr schnelle Bewegung der dortigen Gletscher. Diese fliessen teilweise mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Stunde. Es hat auf Grönland faszinierende Landschaften. Die Leute, die dort leben, sind ebenfalls sehr beeindruckend. Auf Grönland gibt es riesige Gletscher, die man in dieser Grössenordnung in den Alpen nicht vorfindet. Die schnellen Gletscherveränderungen dort sind für unsere wissenschaftliche Arbeit extrem interessant. Würden Sie als Wissenschaftler gerne auch so eine Expedition durchführen wie Alfred de Quervain?
So eine Expedition, wie sie de Quervain seinerzeit unternommen hat, ist heute nicht mehr vorstellbar. Dafür sind wir viel zu verweichlicht. Heutzutage verfügen wir zwar unter anderem über Satellitentelefon, Helikopter und GPS-Systeme. Sprich: Wir sind immer verbunden und können mit Hilfe rechnen. Aber das, was de Quervain 1912 gemacht hat, war eine Reise ins Ungewisse. Ein echtes Abenteuer, das total existenziell war. Ich erforsche zwar aus Hobby auch Höhlen – aber das ist nicht vergleichbar mit einer derart mutigen und alles fordernden Expedition. Was interessiert Sie eigentlich an Gletschern so? Das Faszinierende an Gletschern ist, dass sie sich bewegen und lebendig sind. Gleichzeitig sind Gletscher beeindruckende, auf Eis und Schnee reduzierte Landschaften. Die Kälte, mit der man bei der Glaziologie zu tun hat, macht mir nichts aus. Denn dagegen kann man sich schützen. Ich vertrage Kälte besser als Wärme und bin froh, wenn ich in der Hochsommerhitze nach Grönland fahren kann. Gletscher sind wegen der Klimaerwärmung eine aussterbende Spezies. Welche Gletscher schmelzen schneller weg – die auf Grönland oder die in den Alpen?
Im Moment schmelzen die Gletscher auf Grönland schneller als in den Alpen. Insbesondere durch das geschmolzene Packeis im Meer hat eine Wassererwärmung stattgefunden, die zu massiven Veränderungen geführt hat. Gletscher reagieren ja vor allem auf sich verändernde Temperaturen. Da der Ozean jetzt dunkel ist, erwärmt sich eben das Wasser stark – und somit auch die Luft.
Grönland heisst auf deutsch soviel wie Grünland. Ist davon auszugehen, dass Grönland aufgrund der Klimaerwärmung und der wegschmelzenden Gletscher tatsächlich irgendwann mal eine grüne Insel wird, wie Irland beispielsweise? Oder wie Island? Das könnte so passieren, aber das wird sehr lange dauern, bis es so weit ist. Man merkt es jetzt schon in Grönland, dass plötzlich Blumen und Pflanzen gedeihen und beispielsweise Büsche grösser werden. Die Chance, dass auf Grönland ein neues Siedlungsgebiet für Menschen entstehen könnte, ist eher kritisch zu beurteilen. Denn einerseits steigen bei der Klimaerwärmung die Vegetationszonen weiter nach Norden – es könnte also zu Wüsteneien kommen. Eisbären würden dabei sehr wahrscheinlich aussterben. Andererseits wird sich der Wasserspiegel infolge der Gletscherschmelze in Grönland stark erhöhen – und viele Küstengebiete wie Holland oder Florida würden einfach überschwemmt und vom Erdboden verschwinden.
Wie lange wird es denn in den Alpen noch Gletscher geben?
Bis in 50 Jahren wird es in vielen Gebieten der Alpen durch die Klimaerwärmung nur noch sehr winzige Gletscherflächen geben. Beim Aletschgletscher dauert es vielleicht noch ein bisschen länger. Die Gletscher in den Alpen sind in sehr schlechtem Zustand. Wie es mit der Gletscherschmelze weitergeht, ist, wie gesagt, alles eine Frage der Temperaturentwicklung.
In Grönland dient der Eispanzer als globale Süsswasserreserve. Warum sind Gletscher in den Alpen eigentlich so wichtig, dass man sie schützen muss? Ohne Gletscher würde ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Schweiz wegfallen – weil viele Touristen in die Schweiz kommen, um auf dem Jungfraujoch und dem Titlis Gletscher zu bestaunen. Ohne Gletscher würde es in den Alpen natürlich auch sehr trocken werden, denn Gletscher sind eine sehr wichtige Wasserquelle. Beispielsweise ist im Wallis die Wasserversorgung von den Gletschern abhängig. Die Bäche würden dann hier austrocknen. Andererseits gäbe es in den Alpen ohne Gletscher künftig bei starkem Niederschlag noch mehr Murabgänge und Schlammlawinen.
Hört sich dramatisch an. Welches ist eigentlich Ihr Lieblingsgletscher?
In den Alpen ist es der Gornergletscher oberhalb Zermatt. Er ist wunderschön und durch die ringsum sehr hohen Berge hat das Eis an der Gletscherzunge Temperaturen im Minusbereich. Normalerweise liegen die Temperaturen der Gletscher in den Alpen exakt bei Null Grad. Welches ist der grösste Gletscher, den Sie schon mal besucht haben?
Der Jakobshavn Isbrae auf Grönland ist mit 5 Kilometern Breite und 900 Metern Dicke sehr eindrücklich. Der Gletscher stellt einen beträchtlichen Teil der grönländischen Eismasse dar. Sein Einzugsgebiet umfasst etwa 6,5 Prozent des Inlandeises – eine riesige Menge an Eis also. Und er fliesst mit einer Geschwindigeit von 14 Kilometern pro Jahr ins Meer, das ist Weltrekord.
«Das Faszinierende an Gletschern ist, dass sie sich bewegen und lebendig sind.»
Martin Lüthi, Glaziologe
Eisbären brauchen künftig besondere Streicheleinheiten, sonst sterben sie infolge der Klimaerwärmung aus: Glaziologe Martin Lüthi aus Einsiedeln in der Zürcher Ausstellung «Grönland 1912».
Foto: Wolfgang Holz