«Die Menschen versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten»
Der Krieg in der Ukraine geht weiter – die Flüchtlinge erleben einen weiteren Jahreswechsel in der Fremde. Irina Bilyavska Camenzind, Projektleiterin komin «Netzwerk Ukraine» im Kanton Schwyz, hält Rückschau und Ausblick.
Die Weihnachts- und Silvestertage brachten für die einen Festfreude, Stille und Einkehr. Für die Menschen in der Ukraine und ihre geflüchteten Angehörigen in der Schweiz hingegen ging der Krieg weiter mit weiteren russischen Raketenschlägen auf ukrainische Städte, die Tod und Schrecken verbreiteten.
«Wir befinden uns alle in einer emotionalen Schaukel», beschreibt Irina Bilyavska Camenzind die Situation. «Auch wenn die Menschen hier in Sicherheit sind, so haben sie täglich Angst um ihre Angehörigen, die dem russischen Kriegs- und Raketenterror ausgesetzt sind», sagt Bilyavska Camenzind, die selbst Angehörige in der Ukraine hat. Während der Feiertage seien viele Flüchtlinge für einige Tage in die Ukraine gereist, um zum ersten Mal nach vielen Monaten wieder einmal ihre Verwandten und Partner zu treffen. «Eine Frau, die aus Einsiedeln nach Kiew gereist ist, erzählte mir per WhatsApp, es sei gerade Raketenalarm und sie sei mit ihrer Tochter im Badezimmer in Deckung gegangen, weil sich der nächste Schutzraum 25 Minuten entfernt befinde.» Starkes Familiennetzwerk
In der Ukraine ist das familiäre Netzwerk traditionellerweise sehr stark – oft auch, weil noch mehrere Generationen in einem Haus oder sogar in einer Wohnung zusammenleben. Dadurch konnten sich die Familienmitglieder nach dem russischen Angriff oft gut und solidarisch untereinander organisieren. Ältere Menschen, die nicht flüchten konnten oder wollten, wurden betreut, Frauen und Männer meldeten sich zum Militär oder zu den Freiwilligenorganisationen, oder blieben wegen ihrer Arbeitsstelle im Land. Doch nach fast zwei Jahren Krieg und Trennung sind diese Verbindungen oft erschöpft. «Die Menschen versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten », meint Bilyavska traurig, «deshalb sind einige zurückgekehrt. »
Zahl der Arbeitenden verdoppeln
Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) waren Anfang Dezember 2023 über 65’000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Schutzstatus «S» in der Schweiz registriert, davon knapp 40’000 im erwerbsfähigen Alter. Nach den Angaben von Bilyavska Camenzind waren im Kanton Schwyz per 30. November 2023 1145 Personen aus der Ukraine mit Schutzstatus «S» gemeldet.
Obwohl die Schweizer Behörden bei Kriegsende mit der Rückkehr der meisten Ukrainer rechnen, bietet ihnen der gegenwärtige Status die Möglichkeit, in der Schweiz zu arbeiten. Davon machen rund 20 Prozent Gebrauch. Eines der Hauptziele des neuen Jahrs sei es, die Anzahl Arbeitender zu verdoppeln, erklärt Bilyavska Camenzind. Der Kanton bereitet die Massnahmen dazu vor. Das Kompetenzzentrum für Integration, komin, hat das Thema Arbeitsmarkt für Migrantinnen auch bei Gesprächsrunden mit den Ukrainerinnen und Ukrainern in den Fokus genommen.
Der wichtigste Schlüssel dazu ist die Sprache, weshalb für die Ukrainer im ganzen Kanton Sprachkurse durch komin und andere Organisationen angeboten werden. Die Lernfähigkeiten sind sehr unterschiedlich. «Besonders Menschen aus kleineren Orten in der Provinz aus der Süd- und Ost-Ukraine sind kaum je gereist und sprechen keine Fremdsprachen», erklärt die Dolmetscherin und Sprachlehrerin. Diese lokalen Unterschiede machen sich auch bei den Kindern und Jugendlichen bemerkbar. Nach ihrer Ankunft besuchen die meisten zuerst eine Integrationsklasse, um sie auf den möglichen Einstieg in eine reguläre Schule vorzubereiten. «Das ist eine grosse Herausforderung, und die Lehrerinnen und Lehrer geben sich grosse Mühe», meint Bilyavska Camenzind optimistisch.
«Wie kann ich mir und anderen helfen?» Ein weiterer Schwerpunkt wird im 2024 der weitere Ausbau von Aktivitäten des Netzwerks sein. «Vor allem mit den späteren Wellen sind viele traumatisierte Menschen mit Kriegserfahrung geflüchtet. Da die Wartezeit für eine psychologische Betreuung mehrere Monate beträgt, sind Selbsthilfe-Aktivitäten sehr wichtig.» Es gehe um die seelische und körperliche Gesundheit der Menschen. Die psychische Belastung führe oft zu körperlichen Krankheiten, erklärt Bilyavska Camenzind. Zum Angebot gehören darum in erster Linie Begegnungen verschiedenster Art, bei denen die Ukrainer sich von den Kriegsängsten befreien und die Solidarität ihrer Landsleute spüren können: Gesprächsrunden, Chorgesang, kreative Tätigkeiten, Wandern, Spazieren. In Einsiedeln gibt es dank der Reformierten Kirche einen Begegnungsort, wo mittwochnachmittags Singproben, Improvisationstheater für Jugendliche, eine Kleiderbörse mit Kaffee und Kuchen und ein Gebetskreis um 18 Uhr stattfinden.
Wichtig sei aber auch die Begegnung mit den Einheimischen, fügt sie hinzu. Darum empfehle sie allen, bei einem lokalen Verein mitzumachen und die Tref-fen von Einsiedle Mitenand zu besuchen. Ausserdem sollten die Flüchtlinge selbst die Initiative ergreifen und jene Aktivitäten organisieren, die sie selber mögen – ganz unter dem Motto: «Wie kann ich mir und anderen helfen?»