Freiheiten
SEITENBLICK: «FUTURE CITIES» Freiheiten
GERHARD SCHMITT
Mit einem freundlichen «Hallo» standen sie am 13. September um 14 Uhr vor der Tür.Vorausgegangen war unser «Ja» auf einen Telefonanruf der Caritas Basel am Morgen: Ob wir innerhalb einer Stunde zusagen könnten, drei Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, eine Mutter mit zwei kleinen Söhnen?
Bewegungsfreiheit – Fahrt aus dem Krieg in den Frieden In ihrem Auto waren sie aus dem Krieg mit drei Koffern über Krakau, Dresden, Mainz und Freiburg in die Schweiz geflohen. Müde, neugierig, hoffnungsvoll traten sie ins Haus. Am nächsten Tag war Engelweihe und wir nahmen sie mit in die Klosterkirche. Sie hörten, wie sie in die Fürbitten eingeschlossen wurden. Wie selbstverständlich wurden sie Teil einer Gemeinschaft, beeindruckt von der barocken Pracht des Gebäudes und der Zeremonie, die sie an ihre orthodoxe Heimat erinnerte.Am Ende spielten die Kinder bereits auf dem Spielplatz vor dem Kloster.
Wir sehen es als selbstverständlich an, dass wir uns innerhalb der Schweiz, in Europa und weltweit bewegen können. Aber spätestens die Einschränkungen während der Pandemie haben uns daran erinnert, dass ungehinderte Bewegung ein fundamentaler Teil unserer Freiheit ist. Krieg und Diktaturen rauben diese Freiheit der Bewegung: Selbst, wenn Menschen die Ausreise oder die Flucht aus ihrem Land gelingt, erschweren oder verhindern andere Länder die Einreise oder die Durchreise. Der Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine hat Europa an seine Werte wie Solidarität, Aufnahme, Hilfe in der Not und Bewegungsfreiheit erinnert: Für die Flüchtenden fielen die Grenzen und das Geschenk der Bewegungsfreiheit ermöglicht ihnen einen Neustart oder die Vorbereitung auf die Rückkehr.
Bewegungsfreiheit braucht Energie. Gesprengte Unterwasser-Pipelines, gestoppte Gas- und Ölexporte, sowie beschossene Atomkraftwerke zeigen, dass Energie verstärkt als Waffe benutzt wird. Da liegt es nahe, erneuerbare Energie vermehrt vor Ort und regional zu erzeugen und so die Energiewende zu beschleunigen.
Energiefreiheit – von fossil zu erneuerbar Unsere neue Mitbewohnerin, die vor dem Krieg Schweizer Geräte und Möbel in die Ukraine importierte, steht versonnen in der Küche und betrachtet auf dem Bildschirm drei farbige Kurven. Sie beschreiben die tägliche Arbeit der Photovoltaikanlage auf dem Dach des Hauses: rot für den Bezug vom Netz, gelb für die erneuerbare Energie der Sonne und grün für den direkten Eigenverbrauch der erneuerbaren Energie, also für ein Stück Energiefreiheit.
Erzeugung, Speicherung und lokale Unabhängigkeit vom Versorgernetz haben ihren Preis. Um die Überschussproduktion der Sonne – die gelbe Kurve – kurzfristig zu speichern, braucht es eine Batterie. Diese versorgt dann das Haus über Nacht oder in sonnenlosen Zeiten und erhöht so den Eigenverbrauch: die grüne Kurve, also die Energiefreiheit.
Wenn im Notfall das Netz vom Stromverteiler abgeschaltet wird oder zusammenbricht, hilft auch die grösste Photovoltaikanlage nichts. Es sei denn, man investiert zusätzlich in teure notstromfähige Batterien und
Wechselrichter, die das eigene Haus zur Strominsel machen. Viel effizienter und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt besser ist es, unter allen Umständen die Netzabschaltung durch die Verteiler zu vermeiden – denn so können auch die vielen Tausend privaten Anlagen weiter Strom einspeisen und dadurch die Energiefreiheit aller erhöhen.
Zurück zur Diskussion mit der ukrainischen Mitbewohnerin über Freiheiten. Wir beschlossen mit Blick auf die Energiebilder – und nach Rücksprache mit den Familien – unsere Energiefreiheit zusätzlich durch Anpassung und Umdenken zu erhöhen: Auf dem App der Wärmepumpe, die in der kalten Jahreszeit am meis-ten Strom braucht, reduzierten wir die Tagestemperatur von 20 auf 19 Grad und die Nachtabsenkung von 15 auf 14 Grad; am Abend und am Morgen verschoben wir 2,5 Stunden in die Nachtabsenkung; den Gebrauch grosser Maschinen und das Laden des E-Autos konzentrierten wir noch konsequenter auf die Stun-den mit Sonnenschein. Und siehe da: Zwar wurde es etwas kühler im Haus, aber mit jedem Tag sahen wir das Wachsen der grünen Kurve und damit unserer Energie- und Bewegungsfreiheit.
Gedankenfreiheit – die Gedanken sind frei Der Abschied der ukrainischen Familie von ihrem Zuhause war hart und grausam. Die Ankunft in der Schweiz dagegen ganz anders: Als wir mit unseren drei Gästen für die Anmeldung ins Einsiedler Rathaus gingen, wurden sie von den Mitarbeiterinnen äusserst freundlich und of-fen empfangen; und es setzte sich fort beim Asyl- und Flüchtlingswesen in der Schwanenstrasse, beim Schulamt, beim Einkaufen. Die Geflüchteten schätzen die Stärke der Gedanken- und Entscheidungsfreiheit, die gelebte Demokratie auszeichnet.
Überall wurden unsere neuen Gäste herzlich empfangen, die Kinder aufgenommen, neue Verbindungen geknüpft, Trauer und Ängste geteilt, die Zukunft geplant. Kehrt sie einmal in die Heimat zurück, wird diese junge Familie die beste Botschafterin für die Schweiz sein.
«Ob wir innerhalb einer Stunde zusagen könnten, drei Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, eine Mutter mit zwei kleinen Söhnen?»
Gerhard Schmitt, Professor Emeritus für Informationsarchitektur, ETH Zürich. 2010 Gründungsdirektor, Singapore- ETH Centre; Mitentwickler des Future Cities Laboratory in Singapur. Seit 2017 Forschungsleiter für Cooling Singapore. Seit 2005 Entwicklung der Informationsarchitektur im urbanen und territorialen Massstab an der ETH Zürich und in Asien. Studien in München, Los Angeles und Berkeley. 1988 Berufung an die ETH Zürich. Zuvor Associate Professor an der Carnegie Mellon Universität; Gastprofessor an der Harvard University. 1994 bis 1996 Vorsteher der Architekturabteilung der ETH Zürich. 1998-2008 Vizepräsident der ETH Zürich für Planung und Logistik. 2000 Initiator des virtuellen Campus ETH World und 2003 des nachhaltigen Science City Campus der ETH Zürich. Für diese Arbeit erhielt er 2010 den europäischen Wissenschafts-Kulturpreis..